Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Gedichte Michelangelos

sind die Stücke kenntlich, im ganzen hundertfünf, die in dieser Sammlung Auf¬
nahme finden sollten. Es war um die Jahre 1545 und 1546, daß Michel¬
angelo die Vorbereitungen zu diesem Plane traf, wobei ihm seine Freunde
Riccio und Donati behilflich waren, beides Florentiner Ausgewanderte, die,
seitdem in ihrer Vaterstadt das medicäische Fürstentum aufgerichtet war, in
Rom lebten. Luigi del Riccio war hier in der Bankfiliale des Hauses Strozzi
angestellt und machte sich seit 1542 um Michelangelo als eine Art Sekretär
verdient. Donati, die bedeutendere Persönlichkeit, war der letzte Staatssekretär
der Republik gewesen. Beide Freunde interessirten sich für die dichterischen
Versuche des schon in Jahren stehenden Meisters, sie munterten ihn auf, regten
ihn zu poetischen Wettspielen an, lockten sogar durch kleine Geschenke, durch
die Übersendung von Leckerbissen Verse von ihm heraus. Aber sie mußten
ihm dafür beim Ausfeilen raten oder behilflich sein. Denn er war nichts
weniger als ein gewandter Verseschmied. Es kam vor, daß er, wenn er ein
Madrigal wegschenken wollte, einen der Freunde bat, es zu diesem Zwecke ge¬
schwind herzurichten. Sie waren denn auch im Besitze einer großen Zahl von
handschriftlichen Gedichten; andre hatten sich zerstreut, und so war es gekommen,
daß ohne Zuthun des Dichters manche eine gewisse Publizität in Rom und
in Florenz erlangten. Einige kamen dadurch in Umlauf, daß sie von zeit¬
genössischen Komponisten in Musik gesetzt wurden. Der Akademiker Benedetto
Varchi in Florenz hielt im Jahre 1547 sogar eine Vorlesung über ein Sonett
Michelangelos, wobei noch andre seiner Gedichte teils mitgeteilt, teils bruch¬
stückweise erwähnt und zur Erklärung herbeigezogen wurden. Unter diesen
Umständen begreift man, daß Michelangelo den Entschluß faßte oder sich dazu
bereden ließ, selbst eine Sammlung seiner Gedichte zu veröffentlichen. Zur
Ausführung ist der Plan nicht gelangt. Während der Vorbereitungen blieb
er liegen, und man weiß nicht, welche Stücke von dem vorhandnen Bestand
etwa noch für die Sammlung ausgewählt worden wären. Warum der Plan
verlassen wurde, ist nicht bekannt. Vermutlich deshalb, weil Riccio, dem eine
Hauptarbeit dabei oblag, im Jahre 1546 eine längere Geschäftsreise nach
Lyon machte und bald nach seiner Rückkehr starb.

In diesen hundertfünf Stücken, die sich als für die Sammlung bestimmt
zu erkennen geben, hat man nun sozusagen einen Grundstock, eine Auslese, die
vom Dichter selbst für reif und druckfähig erklärt ist, und man hat damit zu¬
gleich eine Zeitgrenze, die eine Ordnung des gesamten Vorrath erlaubt. Drei
große Gruppen ergeben sich: einmal alles, was bis zu jener Zeitgrenze ge¬
dichtet ist, ohne in die Sammlung aufgenommen zu sein, darunter viele Ge¬
dichte, die durch die überschwüngliche Neigung zu Tommaso Cavalieri (seit
1532) und durch die Freundschaft für Vittoria Colonna (seit 1538) veranlaßt
worden sind. Es folgen die für die Sammlung zusammengestellten Stücke,
darunter ältere Gedichte, die aber überarbeitet sind, in der Hauptsache jedoch


Die Gedichte Michelangelos

sind die Stücke kenntlich, im ganzen hundertfünf, die in dieser Sammlung Auf¬
nahme finden sollten. Es war um die Jahre 1545 und 1546, daß Michel¬
angelo die Vorbereitungen zu diesem Plane traf, wobei ihm seine Freunde
Riccio und Donati behilflich waren, beides Florentiner Ausgewanderte, die,
seitdem in ihrer Vaterstadt das medicäische Fürstentum aufgerichtet war, in
Rom lebten. Luigi del Riccio war hier in der Bankfiliale des Hauses Strozzi
angestellt und machte sich seit 1542 um Michelangelo als eine Art Sekretär
verdient. Donati, die bedeutendere Persönlichkeit, war der letzte Staatssekretär
der Republik gewesen. Beide Freunde interessirten sich für die dichterischen
Versuche des schon in Jahren stehenden Meisters, sie munterten ihn auf, regten
ihn zu poetischen Wettspielen an, lockten sogar durch kleine Geschenke, durch
die Übersendung von Leckerbissen Verse von ihm heraus. Aber sie mußten
ihm dafür beim Ausfeilen raten oder behilflich sein. Denn er war nichts
weniger als ein gewandter Verseschmied. Es kam vor, daß er, wenn er ein
Madrigal wegschenken wollte, einen der Freunde bat, es zu diesem Zwecke ge¬
schwind herzurichten. Sie waren denn auch im Besitze einer großen Zahl von
handschriftlichen Gedichten; andre hatten sich zerstreut, und so war es gekommen,
daß ohne Zuthun des Dichters manche eine gewisse Publizität in Rom und
in Florenz erlangten. Einige kamen dadurch in Umlauf, daß sie von zeit¬
genössischen Komponisten in Musik gesetzt wurden. Der Akademiker Benedetto
Varchi in Florenz hielt im Jahre 1547 sogar eine Vorlesung über ein Sonett
Michelangelos, wobei noch andre seiner Gedichte teils mitgeteilt, teils bruch¬
stückweise erwähnt und zur Erklärung herbeigezogen wurden. Unter diesen
Umständen begreift man, daß Michelangelo den Entschluß faßte oder sich dazu
bereden ließ, selbst eine Sammlung seiner Gedichte zu veröffentlichen. Zur
Ausführung ist der Plan nicht gelangt. Während der Vorbereitungen blieb
er liegen, und man weiß nicht, welche Stücke von dem vorhandnen Bestand
etwa noch für die Sammlung ausgewählt worden wären. Warum der Plan
verlassen wurde, ist nicht bekannt. Vermutlich deshalb, weil Riccio, dem eine
Hauptarbeit dabei oblag, im Jahre 1546 eine längere Geschäftsreise nach
Lyon machte und bald nach seiner Rückkehr starb.

In diesen hundertfünf Stücken, die sich als für die Sammlung bestimmt
zu erkennen geben, hat man nun sozusagen einen Grundstock, eine Auslese, die
vom Dichter selbst für reif und druckfähig erklärt ist, und man hat damit zu¬
gleich eine Zeitgrenze, die eine Ordnung des gesamten Vorrath erlaubt. Drei
große Gruppen ergeben sich: einmal alles, was bis zu jener Zeitgrenze ge¬
dichtet ist, ohne in die Sammlung aufgenommen zu sein, darunter viele Ge¬
dichte, die durch die überschwüngliche Neigung zu Tommaso Cavalieri (seit
1532) und durch die Freundschaft für Vittoria Colonna (seit 1538) veranlaßt
worden sind. Es folgen die für die Sammlung zusammengestellten Stücke,
darunter ältere Gedichte, die aber überarbeitet sind, in der Hauptsache jedoch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0461" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228763"/>
            <fw type="header" place="top"> Die Gedichte Michelangelos</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1588" prev="#ID_1587"> sind die Stücke kenntlich, im ganzen hundertfünf, die in dieser Sammlung Auf¬<lb/>
nahme finden sollten. Es war um die Jahre 1545 und 1546, daß Michel¬<lb/>
angelo die Vorbereitungen zu diesem Plane traf, wobei ihm seine Freunde<lb/>
Riccio und Donati behilflich waren, beides Florentiner Ausgewanderte, die,<lb/>
seitdem in ihrer Vaterstadt das medicäische Fürstentum aufgerichtet war, in<lb/>
Rom lebten. Luigi del Riccio war hier in der Bankfiliale des Hauses Strozzi<lb/>
angestellt und machte sich seit 1542 um Michelangelo als eine Art Sekretär<lb/>
verdient. Donati, die bedeutendere Persönlichkeit, war der letzte Staatssekretär<lb/>
der Republik gewesen. Beide Freunde interessirten sich für die dichterischen<lb/>
Versuche des schon in Jahren stehenden Meisters, sie munterten ihn auf, regten<lb/>
ihn zu poetischen Wettspielen an, lockten sogar durch kleine Geschenke, durch<lb/>
die Übersendung von Leckerbissen Verse von ihm heraus. Aber sie mußten<lb/>
ihm dafür beim Ausfeilen raten oder behilflich sein. Denn er war nichts<lb/>
weniger als ein gewandter Verseschmied. Es kam vor, daß er, wenn er ein<lb/>
Madrigal wegschenken wollte, einen der Freunde bat, es zu diesem Zwecke ge¬<lb/>
schwind herzurichten. Sie waren denn auch im Besitze einer großen Zahl von<lb/>
handschriftlichen Gedichten; andre hatten sich zerstreut, und so war es gekommen,<lb/>
daß ohne Zuthun des Dichters manche eine gewisse Publizität in Rom und<lb/>
in Florenz erlangten. Einige kamen dadurch in Umlauf, daß sie von zeit¬<lb/>
genössischen Komponisten in Musik gesetzt wurden. Der Akademiker Benedetto<lb/>
Varchi in Florenz hielt im Jahre 1547 sogar eine Vorlesung über ein Sonett<lb/>
Michelangelos, wobei noch andre seiner Gedichte teils mitgeteilt, teils bruch¬<lb/>
stückweise erwähnt und zur Erklärung herbeigezogen wurden. Unter diesen<lb/>
Umständen begreift man, daß Michelangelo den Entschluß faßte oder sich dazu<lb/>
bereden ließ, selbst eine Sammlung seiner Gedichte zu veröffentlichen. Zur<lb/>
Ausführung ist der Plan nicht gelangt. Während der Vorbereitungen blieb<lb/>
er liegen, und man weiß nicht, welche Stücke von dem vorhandnen Bestand<lb/>
etwa noch für die Sammlung ausgewählt worden wären. Warum der Plan<lb/>
verlassen wurde, ist nicht bekannt. Vermutlich deshalb, weil Riccio, dem eine<lb/>
Hauptarbeit dabei oblag, im Jahre 1546 eine längere Geschäftsreise nach<lb/>
Lyon machte und bald nach seiner Rückkehr starb.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1589" next="#ID_1590"> In diesen hundertfünf Stücken, die sich als für die Sammlung bestimmt<lb/>
zu erkennen geben, hat man nun sozusagen einen Grundstock, eine Auslese, die<lb/>
vom Dichter selbst für reif und druckfähig erklärt ist, und man hat damit zu¬<lb/>
gleich eine Zeitgrenze, die eine Ordnung des gesamten Vorrath erlaubt. Drei<lb/>
große Gruppen ergeben sich: einmal alles, was bis zu jener Zeitgrenze ge¬<lb/>
dichtet ist, ohne in die Sammlung aufgenommen zu sein, darunter viele Ge¬<lb/>
dichte, die durch die überschwüngliche Neigung zu Tommaso Cavalieri (seit<lb/>
1532) und durch die Freundschaft für Vittoria Colonna (seit 1538) veranlaßt<lb/>
worden sind. Es folgen die für die Sammlung zusammengestellten Stücke,<lb/>
darunter ältere Gedichte, die aber überarbeitet sind, in der Hauptsache jedoch</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0461] Die Gedichte Michelangelos sind die Stücke kenntlich, im ganzen hundertfünf, die in dieser Sammlung Auf¬ nahme finden sollten. Es war um die Jahre 1545 und 1546, daß Michel¬ angelo die Vorbereitungen zu diesem Plane traf, wobei ihm seine Freunde Riccio und Donati behilflich waren, beides Florentiner Ausgewanderte, die, seitdem in ihrer Vaterstadt das medicäische Fürstentum aufgerichtet war, in Rom lebten. Luigi del Riccio war hier in der Bankfiliale des Hauses Strozzi angestellt und machte sich seit 1542 um Michelangelo als eine Art Sekretär verdient. Donati, die bedeutendere Persönlichkeit, war der letzte Staatssekretär der Republik gewesen. Beide Freunde interessirten sich für die dichterischen Versuche des schon in Jahren stehenden Meisters, sie munterten ihn auf, regten ihn zu poetischen Wettspielen an, lockten sogar durch kleine Geschenke, durch die Übersendung von Leckerbissen Verse von ihm heraus. Aber sie mußten ihm dafür beim Ausfeilen raten oder behilflich sein. Denn er war nichts weniger als ein gewandter Verseschmied. Es kam vor, daß er, wenn er ein Madrigal wegschenken wollte, einen der Freunde bat, es zu diesem Zwecke ge¬ schwind herzurichten. Sie waren denn auch im Besitze einer großen Zahl von handschriftlichen Gedichten; andre hatten sich zerstreut, und so war es gekommen, daß ohne Zuthun des Dichters manche eine gewisse Publizität in Rom und in Florenz erlangten. Einige kamen dadurch in Umlauf, daß sie von zeit¬ genössischen Komponisten in Musik gesetzt wurden. Der Akademiker Benedetto Varchi in Florenz hielt im Jahre 1547 sogar eine Vorlesung über ein Sonett Michelangelos, wobei noch andre seiner Gedichte teils mitgeteilt, teils bruch¬ stückweise erwähnt und zur Erklärung herbeigezogen wurden. Unter diesen Umständen begreift man, daß Michelangelo den Entschluß faßte oder sich dazu bereden ließ, selbst eine Sammlung seiner Gedichte zu veröffentlichen. Zur Ausführung ist der Plan nicht gelangt. Während der Vorbereitungen blieb er liegen, und man weiß nicht, welche Stücke von dem vorhandnen Bestand etwa noch für die Sammlung ausgewählt worden wären. Warum der Plan verlassen wurde, ist nicht bekannt. Vermutlich deshalb, weil Riccio, dem eine Hauptarbeit dabei oblag, im Jahre 1546 eine längere Geschäftsreise nach Lyon machte und bald nach seiner Rückkehr starb. In diesen hundertfünf Stücken, die sich als für die Sammlung bestimmt zu erkennen geben, hat man nun sozusagen einen Grundstock, eine Auslese, die vom Dichter selbst für reif und druckfähig erklärt ist, und man hat damit zu¬ gleich eine Zeitgrenze, die eine Ordnung des gesamten Vorrath erlaubt. Drei große Gruppen ergeben sich: einmal alles, was bis zu jener Zeitgrenze ge¬ dichtet ist, ohne in die Sammlung aufgenommen zu sein, darunter viele Ge¬ dichte, die durch die überschwüngliche Neigung zu Tommaso Cavalieri (seit 1532) und durch die Freundschaft für Vittoria Colonna (seit 1538) veranlaßt worden sind. Es folgen die für die Sammlung zusammengestellten Stücke, darunter ältere Gedichte, die aber überarbeitet sind, in der Hauptsache jedoch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/461
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/461>, abgerufen am 16.05.2024.