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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Gedichte Michelangelos
(Schluß) 6

as Merkwürdige ist nun, daß zu der Zeit, wo diese religiöse
Wendung bei ihm begonnen hat, der soldatische Eros noch keines¬
wegs überwunden ist. Setzen wir den Höhepunkt der Freund¬
schaft mit Vittoria Colonna um das Jahr 1545, so gehören
derselben Zeit Briefe und Gedichte an, die das alte Thema
der Freundesliebe variiren, und in dieselbe Zeit führt jenes Gespräch des
Donato Gianotti, worin Michelangelo selbst den leidenschaftlichen Zustand
schildert, in den ihn der Anblick und der Umgang mit schönen Jünglingen ver¬
setzt, wo aber auch schon der Gedanke an den Tod als das Gegenmittel er¬
scheint, das von der Liebesleidenschaft befreit. Das antike Freundschaftsideal
und der Einfluß der Marchesa von Peseara, Liebesleidenschaft und Todes¬
gedanken bestürmen zu gleicher Zeit die Seele und machen sich den Rang
darin streitig. Eben um diese Zeit, um 1545, zeigt sich unser Dichter, der
damals siebzig Jahre alt war, von einer ganz erstaunlichen Stärke und Viel¬
seitigkeit der Empfindungswelt. Von diesem Zeitpunkt an entstanden eine
Menge erotischer Gedichte, deren Beziehung schwer zu deuten ist. Sie bilden
eine Reihe, die sich durch die nächsten Jahre, etwa bis zur Mitte der fünfziger
Jahre, verfolgen läßt. Es ist, als ob der siebzigjährige von einer neuen
mächtigen Leidenschaft ergriffen wäre. Noch bei Lebzeiten der Vittoria Colonna
müßte ihn dieses Liebesfeuer erfaßt haben. Wir vernehmen Klagen über eine
ÄonnÄ deM s "zi-näsls, deren Schönheit und deren Grausamkeit der Dichter
ganz in petrarkischen Weisen besingt. Amor richtet auf den kraftlosen Greis
seine Pfeile, versucht aus vertrocknetem Stamm Blüten hervorzulocken. Trium-
Phirend spricht der Dichter das stolze Wort aus, daß Liebe zum Schönen auch
dem Alter keine Sünde sei, dann wieder ergreift ihn die Scham, und er flucht
dem Gotte, der noch den letzten Tag zum Tag der Schande machen wolle.
Liebe und Tod, Gott Amor und der'Gedanke an das nahe Ende liegen sich
im Widerstreit, der die Seele des Dichters zerreißt, bis zuletzt Amor über¬
wunden wird durch den schwer erkämpften Entschluß, nur noch nach dem
Seelenheil zu trachten.




Die Gedichte Michelangelos
(Schluß) 6

as Merkwürdige ist nun, daß zu der Zeit, wo diese religiöse
Wendung bei ihm begonnen hat, der soldatische Eros noch keines¬
wegs überwunden ist. Setzen wir den Höhepunkt der Freund¬
schaft mit Vittoria Colonna um das Jahr 1545, so gehören
derselben Zeit Briefe und Gedichte an, die das alte Thema
der Freundesliebe variiren, und in dieselbe Zeit führt jenes Gespräch des
Donato Gianotti, worin Michelangelo selbst den leidenschaftlichen Zustand
schildert, in den ihn der Anblick und der Umgang mit schönen Jünglingen ver¬
setzt, wo aber auch schon der Gedanke an den Tod als das Gegenmittel er¬
scheint, das von der Liebesleidenschaft befreit. Das antike Freundschaftsideal
und der Einfluß der Marchesa von Peseara, Liebesleidenschaft und Todes¬
gedanken bestürmen zu gleicher Zeit die Seele und machen sich den Rang
darin streitig. Eben um diese Zeit, um 1545, zeigt sich unser Dichter, der
damals siebzig Jahre alt war, von einer ganz erstaunlichen Stärke und Viel¬
seitigkeit der Empfindungswelt. Von diesem Zeitpunkt an entstanden eine
Menge erotischer Gedichte, deren Beziehung schwer zu deuten ist. Sie bilden
eine Reihe, die sich durch die nächsten Jahre, etwa bis zur Mitte der fünfziger
Jahre, verfolgen läßt. Es ist, als ob der siebzigjährige von einer neuen
mächtigen Leidenschaft ergriffen wäre. Noch bei Lebzeiten der Vittoria Colonna
müßte ihn dieses Liebesfeuer erfaßt haben. Wir vernehmen Klagen über eine
ÄonnÄ deM s «zi-näsls, deren Schönheit und deren Grausamkeit der Dichter
ganz in petrarkischen Weisen besingt. Amor richtet auf den kraftlosen Greis
seine Pfeile, versucht aus vertrocknetem Stamm Blüten hervorzulocken. Trium-
Phirend spricht der Dichter das stolze Wort aus, daß Liebe zum Schönen auch
dem Alter keine Sünde sei, dann wieder ergreift ihn die Scham, und er flucht
dem Gotte, der noch den letzten Tag zum Tag der Schande machen wolle.
Liebe und Tod, Gott Amor und der'Gedanke an das nahe Ende liegen sich
im Widerstreit, der die Seele des Dichters zerreißt, bis zuletzt Amor über¬
wunden wird durch den schwer erkämpften Entschluß, nur noch nach dem
Seelenheil zu trachten.


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[0567] [Abbildung] Die Gedichte Michelangelos (Schluß) 6 as Merkwürdige ist nun, daß zu der Zeit, wo diese religiöse Wendung bei ihm begonnen hat, der soldatische Eros noch keines¬ wegs überwunden ist. Setzen wir den Höhepunkt der Freund¬ schaft mit Vittoria Colonna um das Jahr 1545, so gehören derselben Zeit Briefe und Gedichte an, die das alte Thema der Freundesliebe variiren, und in dieselbe Zeit führt jenes Gespräch des Donato Gianotti, worin Michelangelo selbst den leidenschaftlichen Zustand schildert, in den ihn der Anblick und der Umgang mit schönen Jünglingen ver¬ setzt, wo aber auch schon der Gedanke an den Tod als das Gegenmittel er¬ scheint, das von der Liebesleidenschaft befreit. Das antike Freundschaftsideal und der Einfluß der Marchesa von Peseara, Liebesleidenschaft und Todes¬ gedanken bestürmen zu gleicher Zeit die Seele und machen sich den Rang darin streitig. Eben um diese Zeit, um 1545, zeigt sich unser Dichter, der damals siebzig Jahre alt war, von einer ganz erstaunlichen Stärke und Viel¬ seitigkeit der Empfindungswelt. Von diesem Zeitpunkt an entstanden eine Menge erotischer Gedichte, deren Beziehung schwer zu deuten ist. Sie bilden eine Reihe, die sich durch die nächsten Jahre, etwa bis zur Mitte der fünfziger Jahre, verfolgen läßt. Es ist, als ob der siebzigjährige von einer neuen mächtigen Leidenschaft ergriffen wäre. Noch bei Lebzeiten der Vittoria Colonna müßte ihn dieses Liebesfeuer erfaßt haben. Wir vernehmen Klagen über eine ÄonnÄ deM s «zi-näsls, deren Schönheit und deren Grausamkeit der Dichter ganz in petrarkischen Weisen besingt. Amor richtet auf den kraftlosen Greis seine Pfeile, versucht aus vertrocknetem Stamm Blüten hervorzulocken. Trium- Phirend spricht der Dichter das stolze Wort aus, daß Liebe zum Schönen auch dem Alter keine Sünde sei, dann wieder ergreift ihn die Scham, und er flucht dem Gotte, der noch den letzten Tag zum Tag der Schande machen wolle. Liebe und Tod, Gott Amor und der'Gedanke an das nahe Ende liegen sich im Widerstreit, der die Seele des Dichters zerreißt, bis zuletzt Amor über¬ wunden wird durch den schwer erkämpften Entschluß, nur noch nach dem Seelenheil zu trachten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/567>, abgerufen am 29.04.2024.