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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Gedichte Michelangelos

Wie soll man sich diese Gedichte erklären? Die Biographen geben keinen
Anhalt, die doch von Cavalieri und von Vittoria Colonnci nicht schweigen.
Frey zeigt sich gleichwohl geneigt, an eine neue Liebesleidenschaft zu denken
und die äoimg. orna<z1<z auf eine wirkliche Spätliebe zu deuten. Der Wortlaut
erlaubt nicht wohl eine andre Deutung, so schwer man sich auch zu ihr ent¬
schließen wird. Man denke sich den ernsten, einsamen, jetzt mit seinen letzten
künstlerischen Lebensaufgaben beschäftigten Meister im Alter von siebzig bis
achtzig Jahren noch von einer Leidenschaft ergriffen, die ihn aufs äußerste
bedrängt und aufregt, die ihm petrarkische Liebesklagen entlockt. Ist es nicht
eine innere Unmöglichkeit? Manche dieser Liebesgedichte, die in Handschriften
seines spätern Alters vorhanden sind, mögen allerdings in ihrer ersten Gestalt
frühern Zeiten angehören. Er hat ja seine Gedichte immer wieder vorgenommen,
an ihnen gefeilt, sie verändert, sie abgeschrieben. Offenbar hat er sich gern
mit ihnen zu schaffen gemacht; sie waren ihm nichts weniger als gleichgiltig.
Seine Schrift zeigt häufig geradezu kalligraphische Bemühung, und es liegen
sogar ganz gleichlautende Fassungen von Gedichten in wiederholten Abschriften
von seiner Hand vor. Auch finden sich Klagen über das Alter, über ein ver-
lornes Leben nachweisbar schon in den Gedichten viel früherer Zeit. Allein
in der Gruppe von Gedichten, von der hier die Rede ist, spielt der Gegensatz
vom Liebesfeuer zu der Kälte des hohen Alters eine solche Rolle, daß sie in
der Hauptsache wirklich dieser spätern Zeit zuzuweisen sein werden. Auch mit
der ausweichenden Erklärung kommt man nicht weit, diese Gedichte seien nichts
weiter als ein Spiel der Einbildungskraft. In alter Gewohnheit habe der
Dichter diese Liebesklagen niedergeschrieben, als eine Ausfüllung müßiger
Augenblicke zwischen seiner Arbeit. Als sprachliche Übung gleichsam, von der
er umso weniger lassen wollte, je größere Schwierigkeit sie ihm zeitlebens
bereitete. Ausspinnung von Gedankenreihen, an denen die Empfindung kaum
mehr einen Anteil hatte. Allein den Eindruck bloßer Formenspielerei machen
doch gerade diese Gedichte keineswegs. Zwar sind sie voll von jenen Anti¬
thesen der petrarkischen Überlieferung, aber hinter der ausgekünstelten Form
verbirgt sich doch echte Leidenschaft. Die Gedichte sind verstandesmäßig zu¬
gespitzt, aber sie spiegeln offenbar einen wirklichen innern Kampf wieder:
Zittern und Furcht, Neue und Scham, Anfechtung und sieghaftes Widerstehen.
Gerade diese Gedichte wird man am wenigsten für bloße Nachahmung, für
schulmäßige Übungen oder spielenden Zeitvertreib halten dürfen.

Erinnern wir uns des eigentümlichen Charakters von Michelangelos
Liebespoesie, so werden uns anch diese Gedichte verständlicher werden- Er
selbst sagt von sich, daß er unzähligemal von Amor getroffen, daß er niemals
ohne Liebe gewesen sei. Das Schöne jeglicher Art und Gestalt, jedes Alters
und Geschlechts dringe ihm durch das Auge in die Seele. Und Condivi
bezeugt ihm, daß er alles, was in seiner Art ausgezeichnet und schön war,


Die Gedichte Michelangelos

Wie soll man sich diese Gedichte erklären? Die Biographen geben keinen
Anhalt, die doch von Cavalieri und von Vittoria Colonnci nicht schweigen.
Frey zeigt sich gleichwohl geneigt, an eine neue Liebesleidenschaft zu denken
und die äoimg. orna<z1<z auf eine wirkliche Spätliebe zu deuten. Der Wortlaut
erlaubt nicht wohl eine andre Deutung, so schwer man sich auch zu ihr ent¬
schließen wird. Man denke sich den ernsten, einsamen, jetzt mit seinen letzten
künstlerischen Lebensaufgaben beschäftigten Meister im Alter von siebzig bis
achtzig Jahren noch von einer Leidenschaft ergriffen, die ihn aufs äußerste
bedrängt und aufregt, die ihm petrarkische Liebesklagen entlockt. Ist es nicht
eine innere Unmöglichkeit? Manche dieser Liebesgedichte, die in Handschriften
seines spätern Alters vorhanden sind, mögen allerdings in ihrer ersten Gestalt
frühern Zeiten angehören. Er hat ja seine Gedichte immer wieder vorgenommen,
an ihnen gefeilt, sie verändert, sie abgeschrieben. Offenbar hat er sich gern
mit ihnen zu schaffen gemacht; sie waren ihm nichts weniger als gleichgiltig.
Seine Schrift zeigt häufig geradezu kalligraphische Bemühung, und es liegen
sogar ganz gleichlautende Fassungen von Gedichten in wiederholten Abschriften
von seiner Hand vor. Auch finden sich Klagen über das Alter, über ein ver-
lornes Leben nachweisbar schon in den Gedichten viel früherer Zeit. Allein
in der Gruppe von Gedichten, von der hier die Rede ist, spielt der Gegensatz
vom Liebesfeuer zu der Kälte des hohen Alters eine solche Rolle, daß sie in
der Hauptsache wirklich dieser spätern Zeit zuzuweisen sein werden. Auch mit
der ausweichenden Erklärung kommt man nicht weit, diese Gedichte seien nichts
weiter als ein Spiel der Einbildungskraft. In alter Gewohnheit habe der
Dichter diese Liebesklagen niedergeschrieben, als eine Ausfüllung müßiger
Augenblicke zwischen seiner Arbeit. Als sprachliche Übung gleichsam, von der
er umso weniger lassen wollte, je größere Schwierigkeit sie ihm zeitlebens
bereitete. Ausspinnung von Gedankenreihen, an denen die Empfindung kaum
mehr einen Anteil hatte. Allein den Eindruck bloßer Formenspielerei machen
doch gerade diese Gedichte keineswegs. Zwar sind sie voll von jenen Anti¬
thesen der petrarkischen Überlieferung, aber hinter der ausgekünstelten Form
verbirgt sich doch echte Leidenschaft. Die Gedichte sind verstandesmäßig zu¬
gespitzt, aber sie spiegeln offenbar einen wirklichen innern Kampf wieder:
Zittern und Furcht, Neue und Scham, Anfechtung und sieghaftes Widerstehen.
Gerade diese Gedichte wird man am wenigsten für bloße Nachahmung, für
schulmäßige Übungen oder spielenden Zeitvertreib halten dürfen.

Erinnern wir uns des eigentümlichen Charakters von Michelangelos
Liebespoesie, so werden uns anch diese Gedichte verständlicher werden- Er
selbst sagt von sich, daß er unzähligemal von Amor getroffen, daß er niemals
ohne Liebe gewesen sei. Das Schöne jeglicher Art und Gestalt, jedes Alters
und Geschlechts dringe ihm durch das Auge in die Seele. Und Condivi
bezeugt ihm, daß er alles, was in seiner Art ausgezeichnet und schön war,


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[0568] Die Gedichte Michelangelos Wie soll man sich diese Gedichte erklären? Die Biographen geben keinen Anhalt, die doch von Cavalieri und von Vittoria Colonnci nicht schweigen. Frey zeigt sich gleichwohl geneigt, an eine neue Liebesleidenschaft zu denken und die äoimg. orna<z1<z auf eine wirkliche Spätliebe zu deuten. Der Wortlaut erlaubt nicht wohl eine andre Deutung, so schwer man sich auch zu ihr ent¬ schließen wird. Man denke sich den ernsten, einsamen, jetzt mit seinen letzten künstlerischen Lebensaufgaben beschäftigten Meister im Alter von siebzig bis achtzig Jahren noch von einer Leidenschaft ergriffen, die ihn aufs äußerste bedrängt und aufregt, die ihm petrarkische Liebesklagen entlockt. Ist es nicht eine innere Unmöglichkeit? Manche dieser Liebesgedichte, die in Handschriften seines spätern Alters vorhanden sind, mögen allerdings in ihrer ersten Gestalt frühern Zeiten angehören. Er hat ja seine Gedichte immer wieder vorgenommen, an ihnen gefeilt, sie verändert, sie abgeschrieben. Offenbar hat er sich gern mit ihnen zu schaffen gemacht; sie waren ihm nichts weniger als gleichgiltig. Seine Schrift zeigt häufig geradezu kalligraphische Bemühung, und es liegen sogar ganz gleichlautende Fassungen von Gedichten in wiederholten Abschriften von seiner Hand vor. Auch finden sich Klagen über das Alter, über ein ver- lornes Leben nachweisbar schon in den Gedichten viel früherer Zeit. Allein in der Gruppe von Gedichten, von der hier die Rede ist, spielt der Gegensatz vom Liebesfeuer zu der Kälte des hohen Alters eine solche Rolle, daß sie in der Hauptsache wirklich dieser spätern Zeit zuzuweisen sein werden. Auch mit der ausweichenden Erklärung kommt man nicht weit, diese Gedichte seien nichts weiter als ein Spiel der Einbildungskraft. In alter Gewohnheit habe der Dichter diese Liebesklagen niedergeschrieben, als eine Ausfüllung müßiger Augenblicke zwischen seiner Arbeit. Als sprachliche Übung gleichsam, von der er umso weniger lassen wollte, je größere Schwierigkeit sie ihm zeitlebens bereitete. Ausspinnung von Gedankenreihen, an denen die Empfindung kaum mehr einen Anteil hatte. Allein den Eindruck bloßer Formenspielerei machen doch gerade diese Gedichte keineswegs. Zwar sind sie voll von jenen Anti¬ thesen der petrarkischen Überlieferung, aber hinter der ausgekünstelten Form verbirgt sich doch echte Leidenschaft. Die Gedichte sind verstandesmäßig zu¬ gespitzt, aber sie spiegeln offenbar einen wirklichen innern Kampf wieder: Zittern und Furcht, Neue und Scham, Anfechtung und sieghaftes Widerstehen. Gerade diese Gedichte wird man am wenigsten für bloße Nachahmung, für schulmäßige Übungen oder spielenden Zeitvertreib halten dürfen. Erinnern wir uns des eigentümlichen Charakters von Michelangelos Liebespoesie, so werden uns anch diese Gedichte verständlicher werden- Er selbst sagt von sich, daß er unzähligemal von Amor getroffen, daß er niemals ohne Liebe gewesen sei. Das Schöne jeglicher Art und Gestalt, jedes Alters und Geschlechts dringe ihm durch das Auge in die Seele. Und Condivi bezeugt ihm, daß er alles, was in seiner Art ausgezeichnet und schön war,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/568>, abgerufen am 16.05.2024.