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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Aus Württemberg

Der Kaiser hat einmal das Verlangen ausgesprochen, daß die Staats¬
betriebe Musteranstalten in sozialpolitischer Hinsicht werden sollten. Er wird
dieses Ziel niemals erreicht sehen, wenn er nicht vorher im Staatsbetriebe
selbst dem persönlichen Wohlwollen für den einzelnen Untergebnen bei allen
Vorgesetzten, und bei den höchsten am meisten, wieder die selbstverständliche
praktische Herrschaft sichert, die man heute für nichts achtet, und die doch so
viel bedeutet. Der Kampf gegen die Sozialdemokratie im Beamtentum kann
nur Erfolg haben, wenn der Kaiser selbst den ganzen Ernst der Klage begreift,
die in dem riesigen Beamtenhcer lauter und immer lauter wiederhallt: "Das
Wohlwollen fehlt überall, und deshalb hilft alles nichts!"




Aus Württemberg

eit Jahr und Tag wird Württemberg durch drei Fragen der
Landespolitik in Atem gehalten, die jede für sich eine große Be¬
deutung haben. Erstens versucht man die im Jahre 1819 ge¬
gebne Verfassung "zeitgemäß" umzugestalten, zweitens will man
die Steuergesetzgebung reformiren, endlich soll auch die Gemeinde¬
verfassung verbessert werden.

Was den ersten Punkt angeht, so handelt es sich darum, einmal die erste
Kammer aus einer fast ausschließlich hocharistokratischen und überwiegend
katholischen Körperschaft in eine solche zu verwandeln, die auch andern Volks¬
kreisen offen steht und sich konfessionell mehr im Einklang mit der Thatsache
befindet, daß Württemberg unter hundert Einwohnern rund siebzig Protestanten
zählt. Dann gilt es, aus der zweiten Kammer die dreiundzwanzig bevorrech¬
teten Mitglieder (die sechs evangelischen Generalsuperintendenten, die drei Ver¬
treter der römischen Kirche, die dreizehn Ritter und den Kanzler der Univer¬
sität Tübingen) zu entfernen und die Kammer ausschließlich auf das allge¬
meine gleiche Wahlrecht zu gründen. Nach langen und schwierigen Verhand¬
lungen ist am 5. April 1893 in der zweiten Kammer (in der seit der letzten
Landtagswahl vom 1. Februar 1895 die demokratische Partei den Ton an¬
giebt) mit neunundsechzig gegen achtzehn Stimmen die Vorlage zu stände ge¬
kommen, die in die erste Kammer vier Vertreter der evangelischen, zwei der
katholischen Kirche, ferner sechs Vertreter der (aus etwa neunzig Familien be¬
stehenden) Ritterschaft und je einen Abgeordneten der Universität und der
technischen Hochschule überweist. Werden diese zusammen gerechnet mit den


Grenzboten III IMS l>
Aus Württemberg

Der Kaiser hat einmal das Verlangen ausgesprochen, daß die Staats¬
betriebe Musteranstalten in sozialpolitischer Hinsicht werden sollten. Er wird
dieses Ziel niemals erreicht sehen, wenn er nicht vorher im Staatsbetriebe
selbst dem persönlichen Wohlwollen für den einzelnen Untergebnen bei allen
Vorgesetzten, und bei den höchsten am meisten, wieder die selbstverständliche
praktische Herrschaft sichert, die man heute für nichts achtet, und die doch so
viel bedeutet. Der Kampf gegen die Sozialdemokratie im Beamtentum kann
nur Erfolg haben, wenn der Kaiser selbst den ganzen Ernst der Klage begreift,
die in dem riesigen Beamtenhcer lauter und immer lauter wiederhallt: „Das
Wohlwollen fehlt überall, und deshalb hilft alles nichts!"




Aus Württemberg

eit Jahr und Tag wird Württemberg durch drei Fragen der
Landespolitik in Atem gehalten, die jede für sich eine große Be¬
deutung haben. Erstens versucht man die im Jahre 1819 ge¬
gebne Verfassung „zeitgemäß" umzugestalten, zweitens will man
die Steuergesetzgebung reformiren, endlich soll auch die Gemeinde¬
verfassung verbessert werden.

Was den ersten Punkt angeht, so handelt es sich darum, einmal die erste
Kammer aus einer fast ausschließlich hocharistokratischen und überwiegend
katholischen Körperschaft in eine solche zu verwandeln, die auch andern Volks¬
kreisen offen steht und sich konfessionell mehr im Einklang mit der Thatsache
befindet, daß Württemberg unter hundert Einwohnern rund siebzig Protestanten
zählt. Dann gilt es, aus der zweiten Kammer die dreiundzwanzig bevorrech¬
teten Mitglieder (die sechs evangelischen Generalsuperintendenten, die drei Ver¬
treter der römischen Kirche, die dreizehn Ritter und den Kanzler der Univer¬
sität Tübingen) zu entfernen und die Kammer ausschließlich auf das allge¬
meine gleiche Wahlrecht zu gründen. Nach langen und schwierigen Verhand¬
lungen ist am 5. April 1893 in der zweiten Kammer (in der seit der letzten
Landtagswahl vom 1. Februar 1895 die demokratische Partei den Ton an¬
giebt) mit neunundsechzig gegen achtzehn Stimmen die Vorlage zu stände ge¬
kommen, die in die erste Kammer vier Vertreter der evangelischen, zwei der
katholischen Kirche, ferner sechs Vertreter der (aus etwa neunzig Familien be¬
stehenden) Ritterschaft und je einen Abgeordneten der Universität und der
technischen Hochschule überweist. Werden diese zusammen gerechnet mit den


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[0073] Aus Württemberg Der Kaiser hat einmal das Verlangen ausgesprochen, daß die Staats¬ betriebe Musteranstalten in sozialpolitischer Hinsicht werden sollten. Er wird dieses Ziel niemals erreicht sehen, wenn er nicht vorher im Staatsbetriebe selbst dem persönlichen Wohlwollen für den einzelnen Untergebnen bei allen Vorgesetzten, und bei den höchsten am meisten, wieder die selbstverständliche praktische Herrschaft sichert, die man heute für nichts achtet, und die doch so viel bedeutet. Der Kampf gegen die Sozialdemokratie im Beamtentum kann nur Erfolg haben, wenn der Kaiser selbst den ganzen Ernst der Klage begreift, die in dem riesigen Beamtenhcer lauter und immer lauter wiederhallt: „Das Wohlwollen fehlt überall, und deshalb hilft alles nichts!" Aus Württemberg eit Jahr und Tag wird Württemberg durch drei Fragen der Landespolitik in Atem gehalten, die jede für sich eine große Be¬ deutung haben. Erstens versucht man die im Jahre 1819 ge¬ gebne Verfassung „zeitgemäß" umzugestalten, zweitens will man die Steuergesetzgebung reformiren, endlich soll auch die Gemeinde¬ verfassung verbessert werden. Was den ersten Punkt angeht, so handelt es sich darum, einmal die erste Kammer aus einer fast ausschließlich hocharistokratischen und überwiegend katholischen Körperschaft in eine solche zu verwandeln, die auch andern Volks¬ kreisen offen steht und sich konfessionell mehr im Einklang mit der Thatsache befindet, daß Württemberg unter hundert Einwohnern rund siebzig Protestanten zählt. Dann gilt es, aus der zweiten Kammer die dreiundzwanzig bevorrech¬ teten Mitglieder (die sechs evangelischen Generalsuperintendenten, die drei Ver¬ treter der römischen Kirche, die dreizehn Ritter und den Kanzler der Univer¬ sität Tübingen) zu entfernen und die Kammer ausschließlich auf das allge¬ meine gleiche Wahlrecht zu gründen. Nach langen und schwierigen Verhand¬ lungen ist am 5. April 1893 in der zweiten Kammer (in der seit der letzten Landtagswahl vom 1. Februar 1895 die demokratische Partei den Ton an¬ giebt) mit neunundsechzig gegen achtzehn Stimmen die Vorlage zu stände ge¬ kommen, die in die erste Kammer vier Vertreter der evangelischen, zwei der katholischen Kirche, ferner sechs Vertreter der (aus etwa neunzig Familien be¬ stehenden) Ritterschaft und je einen Abgeordneten der Universität und der technischen Hochschule überweist. Werden diese zusammen gerechnet mit den Grenzboten III IMS l>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/73>, abgerufen am 29.04.2024.