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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Aus Württemberg

sieben königlichen Prinzen, den neunzehn Standesherren und den acht vom König
auf Lebenszeit bestellten Mitgliedern, so ergiebt sich, daß das Oberhaus künftig
achtundvierzig Stimmen haben würde. Konfessionell betrachtet würden etwa
zweiundzwanzig evangelische Mitglieder sechsundzwanzig katholischen gegenüber
stehen, während gegenwärtig die Zahlen etwa zwölf und zweiundzwanzig sind.
Die zweite Kammer würde durch den Ausfall der dreiundzwanzig Bevorrech¬
teten auf siebzig Mann herabsinken, nämlich sieben Vertreter der "guten Städte"
und dreiundsechzig der Obcramtsbczirke, die alle seit 1868 (wo das Ministe¬
rium Varnbüler es unternahm, Bismarck dnrch Freisinn zu übertrumpfen) nach
dem allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht gewählt werden
und ein Tagegeld von einem Dukaten 9 Mark 43 Pfennige) empfangen.
Da man siebzig Abgeordnete für eine der Geschäftslast gegenüber ungenügende
Zahl ansah, so galt es für den Ausfall Ersatz zu schaffen, und nach heißen
Kämpfen in Presse und Parlament entschieden sich Regierung und Mehrheit
dafür, durch die Einführung des Proportional- oder Verhältniswahlsystems ein¬
undzwanzig Abgeordnete zu beschaffen und außerdem der Stadt Stuttgart -- oder
der dortigen Sozialdemokratie -- mit Rücksicht auf die (auf etwa 170000 Seelen
gestiegne) Einwohnerzahl statt des einen bisherigen Abgeordneten drei zuzu¬
billigen. Die Verhältniswahlen sollen nach den vier Kreisen des Königreichs
vollzogen werden; der Neckarkreis mit 700000 Seelen soll sieben, der Doncm-
uud der Schwarzwaldkreis mit je 500000 sollen je fünf, der Jagstkreis mit
400000 soll vier Abgeordnete erhalten. Man verspricht sich von diesem
System, das noch in keiner Monarchie eingeführt ist, eine größere Gerechtigkeit
in der Verteilung der Abgevrdnetenstellen und ferner das Eintreten ange¬
sehenerer und geistig bedeutenderer Männer, als sie bei den vielfach vom eng¬
herzigsten Kirchturmsstandpunkt beherrschten Bezirkswahlen gewählt zu werden
pflegen. Andrerseits wird befürchtet, daß der sogenannte "Proporz" lediglich ein
Werkzeug in der Hand der Parteiführer werden könnte, von denen thatsächlich
die Aufstellung der Vewerberlisten im wesentlichen abhängen werde; und man
verhehlt sich auch nicht, daß diese Wahlart die brutalste Ausprägung der Auf¬
fassung ist, als ob die Menschen nur Zahlen und nicht Individuen von ganz
verschiednen sittlichem, geistigem und wirtschaftlichem Werte seien, und daß die
Parteien, die den Stimmenfang am besten zu betreiben verstehen, dabei not¬
wendig die besten Geschäfte machen müssen. Das ganze Verfassungsgesetz wird
ohne Frage den radikalen Parteien sehr gut bekommen, und das heißt man
dann "zeitgemäß."

Die Steuerreform läuft in der Hauptsache darauf hinaus, daß neben die
bestehenden sogenannten Ertragsteuern von Grund und Boden, Gewerben und
Gebäuden noch eine "ergänzende Einkommensteuer" treten soll, die die untersten
Schichten entlasten, aber die höhern, und zwar schon von 5000 Mark an recht
spürbar, mehr belasten wird. Wenn es nach den Beschlüssen der zweiten


Aus Württemberg

sieben königlichen Prinzen, den neunzehn Standesherren und den acht vom König
auf Lebenszeit bestellten Mitgliedern, so ergiebt sich, daß das Oberhaus künftig
achtundvierzig Stimmen haben würde. Konfessionell betrachtet würden etwa
zweiundzwanzig evangelische Mitglieder sechsundzwanzig katholischen gegenüber
stehen, während gegenwärtig die Zahlen etwa zwölf und zweiundzwanzig sind.
Die zweite Kammer würde durch den Ausfall der dreiundzwanzig Bevorrech¬
teten auf siebzig Mann herabsinken, nämlich sieben Vertreter der „guten Städte"
und dreiundsechzig der Obcramtsbczirke, die alle seit 1868 (wo das Ministe¬
rium Varnbüler es unternahm, Bismarck dnrch Freisinn zu übertrumpfen) nach
dem allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht gewählt werden
und ein Tagegeld von einem Dukaten 9 Mark 43 Pfennige) empfangen.
Da man siebzig Abgeordnete für eine der Geschäftslast gegenüber ungenügende
Zahl ansah, so galt es für den Ausfall Ersatz zu schaffen, und nach heißen
Kämpfen in Presse und Parlament entschieden sich Regierung und Mehrheit
dafür, durch die Einführung des Proportional- oder Verhältniswahlsystems ein¬
undzwanzig Abgeordnete zu beschaffen und außerdem der Stadt Stuttgart — oder
der dortigen Sozialdemokratie — mit Rücksicht auf die (auf etwa 170000 Seelen
gestiegne) Einwohnerzahl statt des einen bisherigen Abgeordneten drei zuzu¬
billigen. Die Verhältniswahlen sollen nach den vier Kreisen des Königreichs
vollzogen werden; der Neckarkreis mit 700000 Seelen soll sieben, der Doncm-
uud der Schwarzwaldkreis mit je 500000 sollen je fünf, der Jagstkreis mit
400000 soll vier Abgeordnete erhalten. Man verspricht sich von diesem
System, das noch in keiner Monarchie eingeführt ist, eine größere Gerechtigkeit
in der Verteilung der Abgevrdnetenstellen und ferner das Eintreten ange¬
sehenerer und geistig bedeutenderer Männer, als sie bei den vielfach vom eng¬
herzigsten Kirchturmsstandpunkt beherrschten Bezirkswahlen gewählt zu werden
pflegen. Andrerseits wird befürchtet, daß der sogenannte „Proporz" lediglich ein
Werkzeug in der Hand der Parteiführer werden könnte, von denen thatsächlich
die Aufstellung der Vewerberlisten im wesentlichen abhängen werde; und man
verhehlt sich auch nicht, daß diese Wahlart die brutalste Ausprägung der Auf¬
fassung ist, als ob die Menschen nur Zahlen und nicht Individuen von ganz
verschiednen sittlichem, geistigem und wirtschaftlichem Werte seien, und daß die
Parteien, die den Stimmenfang am besten zu betreiben verstehen, dabei not¬
wendig die besten Geschäfte machen müssen. Das ganze Verfassungsgesetz wird
ohne Frage den radikalen Parteien sehr gut bekommen, und das heißt man
dann „zeitgemäß."

Die Steuerreform läuft in der Hauptsache darauf hinaus, daß neben die
bestehenden sogenannten Ertragsteuern von Grund und Boden, Gewerben und
Gebäuden noch eine „ergänzende Einkommensteuer" treten soll, die die untersten
Schichten entlasten, aber die höhern, und zwar schon von 5000 Mark an recht
spürbar, mehr belasten wird. Wenn es nach den Beschlüssen der zweiten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/74>, abgerufen am 16.05.2024.