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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Theodor von Bernhard! als Nationalökouom

als der, der den Angehörigen der am wenigsten begünstigten wirtschaftlichen
Stände unter dem Einfluß andrer allgemeiner Verhältnisse, bei weniger gleich¬
mäßiger Verteilung zufallen könnte. Aber wohl noch lange ehe diese äußerste
Grenze erreicht wäre, würde man das Dasein eines höchst elenden Zustandes
anerkennen müssen, ein Sinken und ein Absterben des Staates und des Volkes
bei zunehmender Zahl der Individuen; einen Zustand, worin trotz der gleich¬
mäßigen Verteilung die Pflichten nicht mehr erfüllt werden könnten, die die
Gesellschaft als Gesamtheit gegen sich selbst hat.

3

Wir könnten nach der Darlegung der Bernhardischeu Grundauffassuug von
Staat und Gesellschaft und seiner agrarischen Anschauungen -- er verlebte
seine Jugend uuter baltischen Rittergutsbesitzern -- unsre Betrachtung schließen;
da sein Buch indessen von seiner Zeit wenig geschätzt worden, jetzt aber ziem¬
lich selten und daher nicht leicht zugänglich ist, so schließen wir noch eine Zu¬
sammenfassung seiner kritischen Untersuchung der manchesterlichen Neinertrags¬
lehre an.") Bei der gegenwärtig herrschenden Verwirrung der öffentlichen
Meinung erscheinen uns die Betrachtungsweise und die Ergebnisse der Unter¬
suchung vom höchsten aktuellen Wert; wir glauben, daß nur auf dem von
Bernhardt schon vor einem halben Jahrhundert bezeichneten Wege eine heilsame
Politik der Sammlung aller wahrhaft staatserhaltenden Elemente möglich und
durchführbar ist.

Wenn man die obersten Sätze der sogenannten klassischen Nationalökonomie
uneingeschränkt als allgemeine und feststehende Wahrheiten hinnimmt, so scheint
das übrige Gebäude folgerichtig aufgeführt, und man wird auch die Folgerungen
nicht bestreikn können. Aber diese obersten Sätze sind eben schlechthin falsch
oder haben nur eine beschränkte Giltigkeit. Wenn es sich darum handelt, das
Verhältnis der Menschheit zur Güterwelt zu erklären, so darf man nicht den
Menschen frei von jeder gesellschaftlichen Pflicht denken, doch aber Eigentum
und Recht nebst dem ganzen übrigen Kulturbestand voraussetzen, der doch eben
die Gesellschaft vermöge der Verpflichtungen sichert, die sie jedem Einzelnen
auferlegt zum Besten seiner Mitmenschen und der Gesamtheit. Von dem Ver¬
hältnis des Einzelnen zum gesellschaftlichen Ganzen muß man sich in bestimmter
Weise Rechenschaft ablegen, denn erst der Gebrauch und der Verbrauch der
Güter macht die Produktion notwendig, ruft sie hervor und bestimmt sie. Das
gesamte Dasein des Menschen steht in bestimmter Beziehung zu dem gegebnen
Kreise, worin sich auch seine gewerblichen Bestrebungen bewegen, und in dem
sich alles gegenseitig beeinflußt. Da nun die Art und Weise, wie sich der



Selbst L, Brentano scheint Bernhardt nicht zu kennen. In seiner Kritik der klas¬
sischen Nationalökonomie 1883 fehlt an der entscheidenden Stelle Bernhardts Name.
Theodor von Bernhard! als Nationalökouom

als der, der den Angehörigen der am wenigsten begünstigten wirtschaftlichen
Stände unter dem Einfluß andrer allgemeiner Verhältnisse, bei weniger gleich¬
mäßiger Verteilung zufallen könnte. Aber wohl noch lange ehe diese äußerste
Grenze erreicht wäre, würde man das Dasein eines höchst elenden Zustandes
anerkennen müssen, ein Sinken und ein Absterben des Staates und des Volkes
bei zunehmender Zahl der Individuen; einen Zustand, worin trotz der gleich¬
mäßigen Verteilung die Pflichten nicht mehr erfüllt werden könnten, die die
Gesellschaft als Gesamtheit gegen sich selbst hat.

3

Wir könnten nach der Darlegung der Bernhardischeu Grundauffassuug von
Staat und Gesellschaft und seiner agrarischen Anschauungen — er verlebte
seine Jugend uuter baltischen Rittergutsbesitzern — unsre Betrachtung schließen;
da sein Buch indessen von seiner Zeit wenig geschätzt worden, jetzt aber ziem¬
lich selten und daher nicht leicht zugänglich ist, so schließen wir noch eine Zu¬
sammenfassung seiner kritischen Untersuchung der manchesterlichen Neinertrags¬
lehre an.") Bei der gegenwärtig herrschenden Verwirrung der öffentlichen
Meinung erscheinen uns die Betrachtungsweise und die Ergebnisse der Unter¬
suchung vom höchsten aktuellen Wert; wir glauben, daß nur auf dem von
Bernhardt schon vor einem halben Jahrhundert bezeichneten Wege eine heilsame
Politik der Sammlung aller wahrhaft staatserhaltenden Elemente möglich und
durchführbar ist.

Wenn man die obersten Sätze der sogenannten klassischen Nationalökonomie
uneingeschränkt als allgemeine und feststehende Wahrheiten hinnimmt, so scheint
das übrige Gebäude folgerichtig aufgeführt, und man wird auch die Folgerungen
nicht bestreikn können. Aber diese obersten Sätze sind eben schlechthin falsch
oder haben nur eine beschränkte Giltigkeit. Wenn es sich darum handelt, das
Verhältnis der Menschheit zur Güterwelt zu erklären, so darf man nicht den
Menschen frei von jeder gesellschaftlichen Pflicht denken, doch aber Eigentum
und Recht nebst dem ganzen übrigen Kulturbestand voraussetzen, der doch eben
die Gesellschaft vermöge der Verpflichtungen sichert, die sie jedem Einzelnen
auferlegt zum Besten seiner Mitmenschen und der Gesamtheit. Von dem Ver¬
hältnis des Einzelnen zum gesellschaftlichen Ganzen muß man sich in bestimmter
Weise Rechenschaft ablegen, denn erst der Gebrauch und der Verbrauch der
Güter macht die Produktion notwendig, ruft sie hervor und bestimmt sie. Das
gesamte Dasein des Menschen steht in bestimmter Beziehung zu dem gegebnen
Kreise, worin sich auch seine gewerblichen Bestrebungen bewegen, und in dem
sich alles gegenseitig beeinflußt. Da nun die Art und Weise, wie sich der



Selbst L, Brentano scheint Bernhardt nicht zu kennen. In seiner Kritik der klas¬
sischen Nationalökonomie 1883 fehlt an der entscheidenden Stelle Bernhardts Name.
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[0207] Theodor von Bernhard! als Nationalökouom als der, der den Angehörigen der am wenigsten begünstigten wirtschaftlichen Stände unter dem Einfluß andrer allgemeiner Verhältnisse, bei weniger gleich¬ mäßiger Verteilung zufallen könnte. Aber wohl noch lange ehe diese äußerste Grenze erreicht wäre, würde man das Dasein eines höchst elenden Zustandes anerkennen müssen, ein Sinken und ein Absterben des Staates und des Volkes bei zunehmender Zahl der Individuen; einen Zustand, worin trotz der gleich¬ mäßigen Verteilung die Pflichten nicht mehr erfüllt werden könnten, die die Gesellschaft als Gesamtheit gegen sich selbst hat. 3 Wir könnten nach der Darlegung der Bernhardischeu Grundauffassuug von Staat und Gesellschaft und seiner agrarischen Anschauungen — er verlebte seine Jugend uuter baltischen Rittergutsbesitzern — unsre Betrachtung schließen; da sein Buch indessen von seiner Zeit wenig geschätzt worden, jetzt aber ziem¬ lich selten und daher nicht leicht zugänglich ist, so schließen wir noch eine Zu¬ sammenfassung seiner kritischen Untersuchung der manchesterlichen Neinertrags¬ lehre an.") Bei der gegenwärtig herrschenden Verwirrung der öffentlichen Meinung erscheinen uns die Betrachtungsweise und die Ergebnisse der Unter¬ suchung vom höchsten aktuellen Wert; wir glauben, daß nur auf dem von Bernhardt schon vor einem halben Jahrhundert bezeichneten Wege eine heilsame Politik der Sammlung aller wahrhaft staatserhaltenden Elemente möglich und durchführbar ist. Wenn man die obersten Sätze der sogenannten klassischen Nationalökonomie uneingeschränkt als allgemeine und feststehende Wahrheiten hinnimmt, so scheint das übrige Gebäude folgerichtig aufgeführt, und man wird auch die Folgerungen nicht bestreikn können. Aber diese obersten Sätze sind eben schlechthin falsch oder haben nur eine beschränkte Giltigkeit. Wenn es sich darum handelt, das Verhältnis der Menschheit zur Güterwelt zu erklären, so darf man nicht den Menschen frei von jeder gesellschaftlichen Pflicht denken, doch aber Eigentum und Recht nebst dem ganzen übrigen Kulturbestand voraussetzen, der doch eben die Gesellschaft vermöge der Verpflichtungen sichert, die sie jedem Einzelnen auferlegt zum Besten seiner Mitmenschen und der Gesamtheit. Von dem Ver¬ hältnis des Einzelnen zum gesellschaftlichen Ganzen muß man sich in bestimmter Weise Rechenschaft ablegen, denn erst der Gebrauch und der Verbrauch der Güter macht die Produktion notwendig, ruft sie hervor und bestimmt sie. Das gesamte Dasein des Menschen steht in bestimmter Beziehung zu dem gegebnen Kreise, worin sich auch seine gewerblichen Bestrebungen bewegen, und in dem sich alles gegenseitig beeinflußt. Da nun die Art und Weise, wie sich der Selbst L, Brentano scheint Bernhardt nicht zu kennen. In seiner Kritik der klas¬ sischen Nationalökonomie 1883 fehlt an der entscheidenden Stelle Bernhardts Name.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/207>, abgerufen am 01.05.2024.