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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Theodor von Bernhardt als Nationalökonom

Einzelne sein Einkommen zu sichern sucht, in verschiednen Richtungen gestaltend
und bestimmend auf die Verhältnisse des Ganzen und auf die Lebenslage
andrer Menschen einwirkt, so hat die Gesamtheit ein lebhaftes Interesse daran
und kann den Bestrebungen des Einzelnen keineswegs gleichgiltig zusehen. Die
Gesellschaft ist kein natürlicher Organismus, worin nur eine Naturnotwendig¬
keit und kein freier Wille herrschte. Dieser sreie Wille ist vielmehr der eigent¬
lich lebendige Geist, der das Ganze durchdringt, und jede Volkswirtschaftslehre
muß deshalb von dem obersten Satz ausgehen, daß alle Güter aus der Natur
und aus einer durch den Willen des Menschen bestimmten Thätigkeit hervor¬
gehen. Die Frage ist also eine der ersten, inwiefern der Wille des Einzelnen
unbeschränkt walten -- sich als Willkür äußern darf; es fragt sich, welche
Verpflichtungen der Einzelne unter den bestehenden Verhältnissen des Verkehrs
übernehmen muß. Diese Fragen kann man natürlich nur beantworten, wenn
man sich klare Rechenschaft über die Natur und die Bestimmung, über das
Wesen und den Zweck der Gesellschaft und des Staates ablegt.*)

Der Mensch ist zwar auch um seiner selbst willen, mit einer individuellen
Bestimmung und Würde da, kann aber doch in einigermaßen kultivirten Zu¬
stünden nur als ein Glied der Gesellschaft gedacht werden. Jedes höhere
Streben, alles eigentlich Menschliche, das ihn über das Tier erhebt, kann nur
unter dem Schutze der Gesellschaft und durch die Gesellschaft gefördert werden.
Die Einzelnen sinken ins Grab und sind vergänglich, die Gesellschaft lebt fort,
sie ist ewig, ihr gehören die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.
Die Interessen der Einzelnen haften meist nur an der Gegenwart und nächsten
Zukunft, die Interessen der Gesellschaft sind allgemein und von ewiger Dauer.
So hat die Gesellschaft dafür zu sorgen, daß die Interessen der Einzelnen mit
den ihren in Einklang bleiben. Auch die Interessen der Gesellschaft (d. i.
eines bestimmten Kulturkreises) und des Staates müssen sich als allgemeine,
d. h. als Menschheitsinteressen bewähren, wenn sie nicht als willkürliche Sonder-
iuteressen erscheinen sollen. Da die Menschheit in Staaten und Nationen lebt,
so hat sich jede dieser Bildungen auch nach außen zu schützen und ist berechtigt,
hierzu dem Einzelnen Pflichten aufzuerlegen.

Hiermit ist nun gegeben, daß die Volkswirtschaftslehre und Volkswirt¬
schaftspflege ihre obersten Sätze von der Politik -- d. h. von einer umfassenden
Staatswissenschaft -- aufnehmen muß, um überhaupt einen festen Boden zu
gewinnen. Überläßt sie die Losung dieser Frage einer andern Wissenschaft, so
ist das eben keine Entscheidung, sondern eine Berufung an ein höheres Tribunal,
deren Notwendigkeit also ausdrücklich anerkannt wird. Die Volkswirtschaft
kann dann aber nnr Ergebnisse von sehr beschränkter Giltigkeit liefern, sie



Wir erinnern hier ausdrücklich an die Aufsätze der Grenzboten über "die Pflicht des
Einzelnen" im vorigen Jahrgang,
Theodor von Bernhardt als Nationalökonom

Einzelne sein Einkommen zu sichern sucht, in verschiednen Richtungen gestaltend
und bestimmend auf die Verhältnisse des Ganzen und auf die Lebenslage
andrer Menschen einwirkt, so hat die Gesamtheit ein lebhaftes Interesse daran
und kann den Bestrebungen des Einzelnen keineswegs gleichgiltig zusehen. Die
Gesellschaft ist kein natürlicher Organismus, worin nur eine Naturnotwendig¬
keit und kein freier Wille herrschte. Dieser sreie Wille ist vielmehr der eigent¬
lich lebendige Geist, der das Ganze durchdringt, und jede Volkswirtschaftslehre
muß deshalb von dem obersten Satz ausgehen, daß alle Güter aus der Natur
und aus einer durch den Willen des Menschen bestimmten Thätigkeit hervor¬
gehen. Die Frage ist also eine der ersten, inwiefern der Wille des Einzelnen
unbeschränkt walten — sich als Willkür äußern darf; es fragt sich, welche
Verpflichtungen der Einzelne unter den bestehenden Verhältnissen des Verkehrs
übernehmen muß. Diese Fragen kann man natürlich nur beantworten, wenn
man sich klare Rechenschaft über die Natur und die Bestimmung, über das
Wesen und den Zweck der Gesellschaft und des Staates ablegt.*)

Der Mensch ist zwar auch um seiner selbst willen, mit einer individuellen
Bestimmung und Würde da, kann aber doch in einigermaßen kultivirten Zu¬
stünden nur als ein Glied der Gesellschaft gedacht werden. Jedes höhere
Streben, alles eigentlich Menschliche, das ihn über das Tier erhebt, kann nur
unter dem Schutze der Gesellschaft und durch die Gesellschaft gefördert werden.
Die Einzelnen sinken ins Grab und sind vergänglich, die Gesellschaft lebt fort,
sie ist ewig, ihr gehören die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.
Die Interessen der Einzelnen haften meist nur an der Gegenwart und nächsten
Zukunft, die Interessen der Gesellschaft sind allgemein und von ewiger Dauer.
So hat die Gesellschaft dafür zu sorgen, daß die Interessen der Einzelnen mit
den ihren in Einklang bleiben. Auch die Interessen der Gesellschaft (d. i.
eines bestimmten Kulturkreises) und des Staates müssen sich als allgemeine,
d. h. als Menschheitsinteressen bewähren, wenn sie nicht als willkürliche Sonder-
iuteressen erscheinen sollen. Da die Menschheit in Staaten und Nationen lebt,
so hat sich jede dieser Bildungen auch nach außen zu schützen und ist berechtigt,
hierzu dem Einzelnen Pflichten aufzuerlegen.

Hiermit ist nun gegeben, daß die Volkswirtschaftslehre und Volkswirt¬
schaftspflege ihre obersten Sätze von der Politik — d. h. von einer umfassenden
Staatswissenschaft — aufnehmen muß, um überhaupt einen festen Boden zu
gewinnen. Überläßt sie die Losung dieser Frage einer andern Wissenschaft, so
ist das eben keine Entscheidung, sondern eine Berufung an ein höheres Tribunal,
deren Notwendigkeit also ausdrücklich anerkannt wird. Die Volkswirtschaft
kann dann aber nnr Ergebnisse von sehr beschränkter Giltigkeit liefern, sie



Wir erinnern hier ausdrücklich an die Aufsätze der Grenzboten über „die Pflicht des
Einzelnen" im vorigen Jahrgang,
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[0208] Theodor von Bernhardt als Nationalökonom Einzelne sein Einkommen zu sichern sucht, in verschiednen Richtungen gestaltend und bestimmend auf die Verhältnisse des Ganzen und auf die Lebenslage andrer Menschen einwirkt, so hat die Gesamtheit ein lebhaftes Interesse daran und kann den Bestrebungen des Einzelnen keineswegs gleichgiltig zusehen. Die Gesellschaft ist kein natürlicher Organismus, worin nur eine Naturnotwendig¬ keit und kein freier Wille herrschte. Dieser sreie Wille ist vielmehr der eigent¬ lich lebendige Geist, der das Ganze durchdringt, und jede Volkswirtschaftslehre muß deshalb von dem obersten Satz ausgehen, daß alle Güter aus der Natur und aus einer durch den Willen des Menschen bestimmten Thätigkeit hervor¬ gehen. Die Frage ist also eine der ersten, inwiefern der Wille des Einzelnen unbeschränkt walten — sich als Willkür äußern darf; es fragt sich, welche Verpflichtungen der Einzelne unter den bestehenden Verhältnissen des Verkehrs übernehmen muß. Diese Fragen kann man natürlich nur beantworten, wenn man sich klare Rechenschaft über die Natur und die Bestimmung, über das Wesen und den Zweck der Gesellschaft und des Staates ablegt.*) Der Mensch ist zwar auch um seiner selbst willen, mit einer individuellen Bestimmung und Würde da, kann aber doch in einigermaßen kultivirten Zu¬ stünden nur als ein Glied der Gesellschaft gedacht werden. Jedes höhere Streben, alles eigentlich Menschliche, das ihn über das Tier erhebt, kann nur unter dem Schutze der Gesellschaft und durch die Gesellschaft gefördert werden. Die Einzelnen sinken ins Grab und sind vergänglich, die Gesellschaft lebt fort, sie ist ewig, ihr gehören die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Die Interessen der Einzelnen haften meist nur an der Gegenwart und nächsten Zukunft, die Interessen der Gesellschaft sind allgemein und von ewiger Dauer. So hat die Gesellschaft dafür zu sorgen, daß die Interessen der Einzelnen mit den ihren in Einklang bleiben. Auch die Interessen der Gesellschaft (d. i. eines bestimmten Kulturkreises) und des Staates müssen sich als allgemeine, d. h. als Menschheitsinteressen bewähren, wenn sie nicht als willkürliche Sonder- iuteressen erscheinen sollen. Da die Menschheit in Staaten und Nationen lebt, so hat sich jede dieser Bildungen auch nach außen zu schützen und ist berechtigt, hierzu dem Einzelnen Pflichten aufzuerlegen. Hiermit ist nun gegeben, daß die Volkswirtschaftslehre und Volkswirt¬ schaftspflege ihre obersten Sätze von der Politik — d. h. von einer umfassenden Staatswissenschaft — aufnehmen muß, um überhaupt einen festen Boden zu gewinnen. Überläßt sie die Losung dieser Frage einer andern Wissenschaft, so ist das eben keine Entscheidung, sondern eine Berufung an ein höheres Tribunal, deren Notwendigkeit also ausdrücklich anerkannt wird. Die Volkswirtschaft kann dann aber nnr Ergebnisse von sehr beschränkter Giltigkeit liefern, sie Wir erinnern hier ausdrücklich an die Aufsätze der Grenzboten über „die Pflicht des Einzelnen" im vorigen Jahrgang,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/208>, abgerufen am 16.05.2024.