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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Die Interessengemeinschaft zwischen Agrariern
und Arbeitern

Wurz vor den Reichstagswahlen und im Hinblick darauf ist im
Verlage von B. Mischer Nachfolger in Leipzig eine Broschüre
erschienen, die von der Presse nicht nach Verdienst gewürdigt
worden ist. Ihr voller Titel lautet: "Agrarier. Arbeiter, Armee
als innerer Dreibund der Begehrlichen. Ein politisches Aktions¬
programm von Berthold Otto." Tönende Worte, wird der Leser denken; in
der That, und anspruchsvoll klingt auch der Schluß des Textes: "Darum sei
an Tage der Wahlschlacht für uns die Parole: Getreidemonopol. und das
Feldgeschrei: Recht auf Arbeit." Der Titel und der Schluß sind jedoch die
einzigen Phrasen, die die 74 Seiten lange Schrift enthält. Sonst ist der
Ausdruck von aller Gesuchtheit frei, treffend, klar und gewandt, das rechte
Kleid für einen besondern Reichtum an fruchtbaren und selbständigen Gedanken.
Der Verfasser ist auch durchaus uicht unbescheiden und nur in etwas ausfälliger
Weise einem unter politischen Schriftstellern weit verbreiteten Fehler verfallen,
dem Fehler, zu übersehe", daß das politische Leben nur mit Einflüssen rechnet,
und daß Meinungen wohl zu Einflüssen werden können, aber erst, wenn sie
zahlreiche und entschlossene Anhänger geworben haben, nicht schon dadurch,
daß ihr Urheber von ihrer Fähigkeit dazu überzeugt sein darf. Die Geschichte
unsrer Zeit kennt in Deutschland nur einen Mann, der eine solche Autorität
hatte, daß seine Anregungen als Programm wirkten und so bezeichnet werden
konnten, und dieser Mann hat am 30. Juli für immer die Augen geschlossen.
Als Programm also können die Vorschläge Ottos nicht angesehen werden,
aber ein großer Teil seiner Ausführungen hat für den. der nicht durch die
Parteibrille sieht, überzeugende Kraft. Seine Schrift verdient, verbreitet und
gelesen, erwogen und beherzigt zu werden. Sie spricht uicht uur zum Verstand,
sondern auch zum Gemüt; der Verfasser ist ein ebenso vorurteilsfreier w.e
warmfühlender Patriot. Seine Kritik dringt bis an die Wurzel der sozial-
wirtschaftlichen Übel und ist furchtlos wie die von der Sozialdemokratie geübte,
aber gerechter und gewissenhafter. Er hütet sich vor dem Frevel der Sozial¬
demokratie. mit der Zukunft va-wuoue zu spielen, betrachtet die nächsten Auf¬
gaben und unternimmt es. ihnen eine gemeingiltige Fassung zu geben. Er ver-
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Die Interessengemeinschaft zwischen Agrariern
und Arbeitern

Wurz vor den Reichstagswahlen und im Hinblick darauf ist im
Verlage von B. Mischer Nachfolger in Leipzig eine Broschüre
erschienen, die von der Presse nicht nach Verdienst gewürdigt
worden ist. Ihr voller Titel lautet: „Agrarier. Arbeiter, Armee
als innerer Dreibund der Begehrlichen. Ein politisches Aktions¬
programm von Berthold Otto." Tönende Worte, wird der Leser denken; in
der That, und anspruchsvoll klingt auch der Schluß des Textes: „Darum sei
an Tage der Wahlschlacht für uns die Parole: Getreidemonopol. und das
Feldgeschrei: Recht auf Arbeit." Der Titel und der Schluß sind jedoch die
einzigen Phrasen, die die 74 Seiten lange Schrift enthält. Sonst ist der
Ausdruck von aller Gesuchtheit frei, treffend, klar und gewandt, das rechte
Kleid für einen besondern Reichtum an fruchtbaren und selbständigen Gedanken.
Der Verfasser ist auch durchaus uicht unbescheiden und nur in etwas ausfälliger
Weise einem unter politischen Schriftstellern weit verbreiteten Fehler verfallen,
dem Fehler, zu übersehe«, daß das politische Leben nur mit Einflüssen rechnet,
und daß Meinungen wohl zu Einflüssen werden können, aber erst, wenn sie
zahlreiche und entschlossene Anhänger geworben haben, nicht schon dadurch,
daß ihr Urheber von ihrer Fähigkeit dazu überzeugt sein darf. Die Geschichte
unsrer Zeit kennt in Deutschland nur einen Mann, der eine solche Autorität
hatte, daß seine Anregungen als Programm wirkten und so bezeichnet werden
konnten, und dieser Mann hat am 30. Juli für immer die Augen geschlossen.
Als Programm also können die Vorschläge Ottos nicht angesehen werden,
aber ein großer Teil seiner Ausführungen hat für den. der nicht durch die
Parteibrille sieht, überzeugende Kraft. Seine Schrift verdient, verbreitet und
gelesen, erwogen und beherzigt zu werden. Sie spricht uicht uur zum Verstand,
sondern auch zum Gemüt; der Verfasser ist ein ebenso vorurteilsfreier w.e
warmfühlender Patriot. Seine Kritik dringt bis an die Wurzel der sozial-
wirtschaftlichen Übel und ist furchtlos wie die von der Sozialdemokratie geübte,
aber gerechter und gewissenhafter. Er hütet sich vor dem Frevel der Sozial¬
demokratie. mit der Zukunft va-wuoue zu spielen, betrachtet die nächsten Auf¬
gaben und unternimmt es. ihnen eine gemeingiltige Fassung zu geben. Er ver-
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renzboten IV 18W
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[0628] [Abbildung] Die Interessengemeinschaft zwischen Agrariern und Arbeitern Wurz vor den Reichstagswahlen und im Hinblick darauf ist im Verlage von B. Mischer Nachfolger in Leipzig eine Broschüre erschienen, die von der Presse nicht nach Verdienst gewürdigt worden ist. Ihr voller Titel lautet: „Agrarier. Arbeiter, Armee als innerer Dreibund der Begehrlichen. Ein politisches Aktions¬ programm von Berthold Otto." Tönende Worte, wird der Leser denken; in der That, und anspruchsvoll klingt auch der Schluß des Textes: „Darum sei an Tage der Wahlschlacht für uns die Parole: Getreidemonopol. und das Feldgeschrei: Recht auf Arbeit." Der Titel und der Schluß sind jedoch die einzigen Phrasen, die die 74 Seiten lange Schrift enthält. Sonst ist der Ausdruck von aller Gesuchtheit frei, treffend, klar und gewandt, das rechte Kleid für einen besondern Reichtum an fruchtbaren und selbständigen Gedanken. Der Verfasser ist auch durchaus uicht unbescheiden und nur in etwas ausfälliger Weise einem unter politischen Schriftstellern weit verbreiteten Fehler verfallen, dem Fehler, zu übersehe«, daß das politische Leben nur mit Einflüssen rechnet, und daß Meinungen wohl zu Einflüssen werden können, aber erst, wenn sie zahlreiche und entschlossene Anhänger geworben haben, nicht schon dadurch, daß ihr Urheber von ihrer Fähigkeit dazu überzeugt sein darf. Die Geschichte unsrer Zeit kennt in Deutschland nur einen Mann, der eine solche Autorität hatte, daß seine Anregungen als Programm wirkten und so bezeichnet werden konnten, und dieser Mann hat am 30. Juli für immer die Augen geschlossen. Als Programm also können die Vorschläge Ottos nicht angesehen werden, aber ein großer Teil seiner Ausführungen hat für den. der nicht durch die Parteibrille sieht, überzeugende Kraft. Seine Schrift verdient, verbreitet und gelesen, erwogen und beherzigt zu werden. Sie spricht uicht uur zum Verstand, sondern auch zum Gemüt; der Verfasser ist ein ebenso vorurteilsfreier w.e warmfühlender Patriot. Seine Kritik dringt bis an die Wurzel der sozial- wirtschaftlichen Übel und ist furchtlos wie die von der Sozialdemokratie geübte, aber gerechter und gewissenhafter. Er hütet sich vor dem Frevel der Sozial¬ demokratie. mit der Zukunft va-wuoue zu spielen, betrachtet die nächsten Auf¬ gaben und unternimmt es. ihnen eine gemeingiltige Fassung zu geben. Er ver- G renzboten IV 18W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/628>, abgerufen am 01.05.2024.