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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Litteratur

Menschen nicht in der Lage sind, dnrch Denkoperationen neue Wahrheiten San den
Tagj zu fördern/' An Kant bekämpft er vorzugsweise den Satz, daß der Raum
eine apriorische Anschauung unsers Verstandes sei, und behauptet im Gegensatz
dazu, daß uns der Raum als Form unsers eignen dreidimensionalen Leibes ans
sinnlichem Wege bekannt werde. Er glaubt, Kant sei zu seinem Irrtume durch den
Umstand verführt worden, daß das Auge die Naumanschmiung nicht unmittelbar,
sondern mir mit Hilfe von Denkoperationen gewinnt, und daß die Tastwahrneh-
mungen, von denen diese Denkoperativnen ausgehen, leicht übersehen werden. Im
zweiten Teile wird u. c>. die durch Helmholtz verbreitete Ansicht widerlegt, das
Stereoskop zeige, wie es das binokulare Sehen sei, was uns die Körperlichkeit
der gesehenen Gegenstände zum Bewußtsein bringe; den Eindruck der Körperlichkeit
machten die Photographien, die man verwende, schon für sich allein, und dieser
Eindruck werde noch durch das Prisma verstärkt; mau habe ihn ebenso, wenn man
mir mit einem Auge hineinschaue. Glahn sagt viel wahres und nützliches, aber er
vernichtet Kant und den Apriorismns gar zu gründlich. Man mag Ausdrücke wie
"apriorische Formen der Anschauung," "ungeborne Ideen" preisgeben, aber es läßt
sich doch nicht leugnen, daß es eine ursprüngliche Einrichtung der Menschenseele
giebt, die alle Menschenseelen zwingt, die Außenwelt übereinstimmend wahrzunehmen,
übereinstimmende Werturteile zu fällen; wäre das nicht der Fall, so wäre ein ge¬
meinsames Handeln von Menschen, wäre eine Gesellschaft nicht möglich; aus der
Beschaffenheit der Außenwelt allein aber kann diese Übereinstimmung nicht erklärt
werden.


G. C. Lichtenbergs Briefe an Dietrich, 1770 bis 1798. Herausgegeben von Eduard
Grisebnch. , Leipzig, Dieterichsche Verlagsbuchhandlung, 18!)8

Es ist viel Getändel in diesen Briefen des gescheute" witzigen guten Mannes,
viel harmloses Geplauder und manche Selbstbespiegelung. Die meisten Briefe sind
weniger um eines Gegenstandes, einer Nachricht willen, als um ihrer selbst wjlleu
geschrieben. Aber als Zeugnisse eines ungewöhnlich selbständigen Menschen, der
viel mehr als andre mit eignen Angen sieht, sind sie doch nicht uninteressant.
Vereinzelt brechen die Strahlen einer lautem Freundschaft zwischen dem Verfasser
und dem Verleger des deutsche" Hogarth durch das humoristische Geplänkel hindurch.

Die Ausgabe ist mit den nötige" Anmerkungen Versehen und ausführlicher"
Angabe" über Porträts von Lichtenberg; das beste bekannte, von dem Göttinger
Universitätskupferstecher Schwenterley, ist in einer Nachbildung als Titelbild bei-
gegeben. Außerdem ziert deu vornehm ausgestatteten kleinen Band ein reizender
Kupferstich vou Chodowiecki, der einen Zug fahrender Komödianten darstellt.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Maraunrt in Leipzig
Litteratur

Menschen nicht in der Lage sind, dnrch Denkoperationen neue Wahrheiten San den
Tagj zu fördern/' An Kant bekämpft er vorzugsweise den Satz, daß der Raum
eine apriorische Anschauung unsers Verstandes sei, und behauptet im Gegensatz
dazu, daß uns der Raum als Form unsers eignen dreidimensionalen Leibes ans
sinnlichem Wege bekannt werde. Er glaubt, Kant sei zu seinem Irrtume durch den
Umstand verführt worden, daß das Auge die Naumanschmiung nicht unmittelbar,
sondern mir mit Hilfe von Denkoperationen gewinnt, und daß die Tastwahrneh-
mungen, von denen diese Denkoperativnen ausgehen, leicht übersehen werden. Im
zweiten Teile wird u. c>. die durch Helmholtz verbreitete Ansicht widerlegt, das
Stereoskop zeige, wie es das binokulare Sehen sei, was uns die Körperlichkeit
der gesehenen Gegenstände zum Bewußtsein bringe; den Eindruck der Körperlichkeit
machten die Photographien, die man verwende, schon für sich allein, und dieser
Eindruck werde noch durch das Prisma verstärkt; mau habe ihn ebenso, wenn man
mir mit einem Auge hineinschaue. Glahn sagt viel wahres und nützliches, aber er
vernichtet Kant und den Apriorismns gar zu gründlich. Man mag Ausdrücke wie
„apriorische Formen der Anschauung," „ungeborne Ideen" preisgeben, aber es läßt
sich doch nicht leugnen, daß es eine ursprüngliche Einrichtung der Menschenseele
giebt, die alle Menschenseelen zwingt, die Außenwelt übereinstimmend wahrzunehmen,
übereinstimmende Werturteile zu fällen; wäre das nicht der Fall, so wäre ein ge¬
meinsames Handeln von Menschen, wäre eine Gesellschaft nicht möglich; aus der
Beschaffenheit der Außenwelt allein aber kann diese Übereinstimmung nicht erklärt
werden.


G. C. Lichtenbergs Briefe an Dietrich, 1770 bis 1798. Herausgegeben von Eduard
Grisebnch. , Leipzig, Dieterichsche Verlagsbuchhandlung, 18!)8

Es ist viel Getändel in diesen Briefen des gescheute» witzigen guten Mannes,
viel harmloses Geplauder und manche Selbstbespiegelung. Die meisten Briefe sind
weniger um eines Gegenstandes, einer Nachricht willen, als um ihrer selbst wjlleu
geschrieben. Aber als Zeugnisse eines ungewöhnlich selbständigen Menschen, der
viel mehr als andre mit eignen Angen sieht, sind sie doch nicht uninteressant.
Vereinzelt brechen die Strahlen einer lautem Freundschaft zwischen dem Verfasser
und dem Verleger des deutsche» Hogarth durch das humoristische Geplänkel hindurch.

Die Ausgabe ist mit den nötige» Anmerkungen Versehen und ausführlicher»
Angabe» über Porträts von Lichtenberg; das beste bekannte, von dem Göttinger
Universitätskupferstecher Schwenterley, ist in einer Nachbildung als Titelbild bei-
gegeben. Außerdem ziert deu vornehm ausgestatteten kleinen Band ein reizender
Kupferstich vou Chodowiecki, der einen Zug fahrender Komödianten darstellt.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Maraunrt in Leipzig
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[0068] Litteratur Menschen nicht in der Lage sind, dnrch Denkoperationen neue Wahrheiten San den Tagj zu fördern/' An Kant bekämpft er vorzugsweise den Satz, daß der Raum eine apriorische Anschauung unsers Verstandes sei, und behauptet im Gegensatz dazu, daß uns der Raum als Form unsers eignen dreidimensionalen Leibes ans sinnlichem Wege bekannt werde. Er glaubt, Kant sei zu seinem Irrtume durch den Umstand verführt worden, daß das Auge die Naumanschmiung nicht unmittelbar, sondern mir mit Hilfe von Denkoperationen gewinnt, und daß die Tastwahrneh- mungen, von denen diese Denkoperativnen ausgehen, leicht übersehen werden. Im zweiten Teile wird u. c>. die durch Helmholtz verbreitete Ansicht widerlegt, das Stereoskop zeige, wie es das binokulare Sehen sei, was uns die Körperlichkeit der gesehenen Gegenstände zum Bewußtsein bringe; den Eindruck der Körperlichkeit machten die Photographien, die man verwende, schon für sich allein, und dieser Eindruck werde noch durch das Prisma verstärkt; mau habe ihn ebenso, wenn man mir mit einem Auge hineinschaue. Glahn sagt viel wahres und nützliches, aber er vernichtet Kant und den Apriorismns gar zu gründlich. Man mag Ausdrücke wie „apriorische Formen der Anschauung," „ungeborne Ideen" preisgeben, aber es läßt sich doch nicht leugnen, daß es eine ursprüngliche Einrichtung der Menschenseele giebt, die alle Menschenseelen zwingt, die Außenwelt übereinstimmend wahrzunehmen, übereinstimmende Werturteile zu fällen; wäre das nicht der Fall, so wäre ein ge¬ meinsames Handeln von Menschen, wäre eine Gesellschaft nicht möglich; aus der Beschaffenheit der Außenwelt allein aber kann diese Übereinstimmung nicht erklärt werden. G. C. Lichtenbergs Briefe an Dietrich, 1770 bis 1798. Herausgegeben von Eduard Grisebnch. , Leipzig, Dieterichsche Verlagsbuchhandlung, 18!)8 Es ist viel Getändel in diesen Briefen des gescheute» witzigen guten Mannes, viel harmloses Geplauder und manche Selbstbespiegelung. Die meisten Briefe sind weniger um eines Gegenstandes, einer Nachricht willen, als um ihrer selbst wjlleu geschrieben. Aber als Zeugnisse eines ungewöhnlich selbständigen Menschen, der viel mehr als andre mit eignen Angen sieht, sind sie doch nicht uninteressant. Vereinzelt brechen die Strahlen einer lautem Freundschaft zwischen dem Verfasser und dem Verleger des deutsche» Hogarth durch das humoristische Geplänkel hindurch. Die Ausgabe ist mit den nötige» Anmerkungen Versehen und ausführlicher» Angabe» über Porträts von Lichtenberg; das beste bekannte, von dem Göttinger Universitätskupferstecher Schwenterley, ist in einer Nachbildung als Titelbild bei- gegeben. Außerdem ziert deu vornehm ausgestatteten kleinen Band ein reizender Kupferstich vou Chodowiecki, der einen Zug fahrender Komödianten darstellt. Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Maraunrt in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/68>, abgerufen am 01.05.2024.