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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Wehrwesen und Sozialdemokratie

Die zweite Periode des deutsch-französischen Krieges liefert uns noch weitere
beherzigenswerte Fingerzeige. Gewiß haben sich die republikanischen Massen¬
aufgebote häufig genug mit Bravour geschlagen, trotzdem unterlagen sie immer,
selbst wenn sie fünfmal stärker als der Gegner waren. Denn der soldatische
Geist fehlte ihnen; der ließ sich nicht kaufen und dem Individuum einfiltrieren.
Um den Patriotismus ist es eine heilige Sache, aber er verblaßt im Regen¬
wetter, er erstarrt in den eisigen Biwaks, und er verdorrt beim langen Marsch
auf sonnendurchglühter Straße. Wo die innere soldatische Tüchtigkeit, die
Mannszucht fehlen, da verpufft der Patriotismus rasch, und Mißtrauen gegen
die Führung (nous sonunss ti-g-mis), Unlust zum Kämpfen, zum Ertragen der
Mühseligkeiten, Unbotmäßigkeit gegen die Befehle der Obern bleiben allein
übrig. Ein unter solchen Umständen notwendig werdender Rückzug führt un¬
ausbleiblich zu einer Katastrophe. Die Kälte, die Marschanstrengungen, der
Mangel an guter Verpflegung waren im Januar 1871 für das Werdersche
Korps dieselben wie für die französische Ostarmee. Aber in welchem Zustande
langte diese auf dem Gebiete der Schweiz an? Sie war Physisch und moralisch
völlig zu Grunde gerichtet. Die Soldaten des großen Friedrich kannten keinen
Patriotismus, aber eine eiserne Mannszucht, und mit dieser blieben sie Sieger,
auch wenn sie auf dem Schlachtfelde unterlegen waren.

Noch eines kommt in Betracht. Wo mehr oder minder irreguläre "Volks-
wehrcn" (Freischärler, Landstürmer, Nationalgarten) Krieg führen, nimmt dieser
immer einen grausamen Charakter an; denn dann heißt es Aug um Aug.
Zahn um Zahn! Frankreich hat das vor achtundzwanzig Jahren am eignen
Leibe erfahren. Und welches Ergebnis brachte ihm 1a Ausrrs Z. outranos?
Die Verlängerung des Elends um volle fünf Monate, den Verlust von weitern
fünfzigtausend jungen Leuten, von Lothringen, von drei Milliarden Kriegs¬
entschädigung, von mindestens zwei Milliarden sonstiger Einbuße und deu
Kampf der Kommune. Nutzen zog aus alledem nur Herr Gambetta, dem ein
"ungenannter Wohlthäter" für seine patriotischen Anstrengungen ein großes
Vermögen schenkte. So lange das Zeitalter des ewigen Friedens nicht an¬
gebrochen ist, so lange demnach Kriege in Aussicht stehen, hat jedes Staats¬
wesen die Verpflichtung, sich auf die rütirng, ratio in umfassender Weise vor¬
zubereiten, um seine Selbständigkeit zu schützen. Dazu bedarf es einer gehörig
organisierten, ausgerüsteten und ausgebildeten Armee. Keinesfalls jedoch wird
das Ziel durch eine "Volkswehr" erreicht werden, wie sie die internationale
Sozialdemokratie gegenwärtig im Auge hat.


2

Viele Tagesblätter, und zwar nicht nur solche, die sich zur Sozialdemo¬
kratie bekennen, feiern in allen Tonarten die Erfolge der Nordamerikaner gegen¬
über den Spaniern als Siege, die die "Volkswehren" über ein stehendes Heer
davongetragen hätten. Betrachten wir zunächst die spanische Armee und Marine.


Wehrwesen und Sozialdemokratie

Die zweite Periode des deutsch-französischen Krieges liefert uns noch weitere
beherzigenswerte Fingerzeige. Gewiß haben sich die republikanischen Massen¬
aufgebote häufig genug mit Bravour geschlagen, trotzdem unterlagen sie immer,
selbst wenn sie fünfmal stärker als der Gegner waren. Denn der soldatische
Geist fehlte ihnen; der ließ sich nicht kaufen und dem Individuum einfiltrieren.
Um den Patriotismus ist es eine heilige Sache, aber er verblaßt im Regen¬
wetter, er erstarrt in den eisigen Biwaks, und er verdorrt beim langen Marsch
auf sonnendurchglühter Straße. Wo die innere soldatische Tüchtigkeit, die
Mannszucht fehlen, da verpufft der Patriotismus rasch, und Mißtrauen gegen
die Führung (nous sonunss ti-g-mis), Unlust zum Kämpfen, zum Ertragen der
Mühseligkeiten, Unbotmäßigkeit gegen die Befehle der Obern bleiben allein
übrig. Ein unter solchen Umständen notwendig werdender Rückzug führt un¬
ausbleiblich zu einer Katastrophe. Die Kälte, die Marschanstrengungen, der
Mangel an guter Verpflegung waren im Januar 1871 für das Werdersche
Korps dieselben wie für die französische Ostarmee. Aber in welchem Zustande
langte diese auf dem Gebiete der Schweiz an? Sie war Physisch und moralisch
völlig zu Grunde gerichtet. Die Soldaten des großen Friedrich kannten keinen
Patriotismus, aber eine eiserne Mannszucht, und mit dieser blieben sie Sieger,
auch wenn sie auf dem Schlachtfelde unterlegen waren.

Noch eines kommt in Betracht. Wo mehr oder minder irreguläre „Volks-
wehrcn" (Freischärler, Landstürmer, Nationalgarten) Krieg führen, nimmt dieser
immer einen grausamen Charakter an; denn dann heißt es Aug um Aug.
Zahn um Zahn! Frankreich hat das vor achtundzwanzig Jahren am eignen
Leibe erfahren. Und welches Ergebnis brachte ihm 1a Ausrrs Z. outranos?
Die Verlängerung des Elends um volle fünf Monate, den Verlust von weitern
fünfzigtausend jungen Leuten, von Lothringen, von drei Milliarden Kriegs¬
entschädigung, von mindestens zwei Milliarden sonstiger Einbuße und deu
Kampf der Kommune. Nutzen zog aus alledem nur Herr Gambetta, dem ein
„ungenannter Wohlthäter" für seine patriotischen Anstrengungen ein großes
Vermögen schenkte. So lange das Zeitalter des ewigen Friedens nicht an¬
gebrochen ist, so lange demnach Kriege in Aussicht stehen, hat jedes Staats¬
wesen die Verpflichtung, sich auf die rütirng, ratio in umfassender Weise vor¬
zubereiten, um seine Selbständigkeit zu schützen. Dazu bedarf es einer gehörig
organisierten, ausgerüsteten und ausgebildeten Armee. Keinesfalls jedoch wird
das Ziel durch eine „Volkswehr" erreicht werden, wie sie die internationale
Sozialdemokratie gegenwärtig im Auge hat.


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Viele Tagesblätter, und zwar nicht nur solche, die sich zur Sozialdemo¬
kratie bekennen, feiern in allen Tonarten die Erfolge der Nordamerikaner gegen¬
über den Spaniern als Siege, die die „Volkswehren" über ein stehendes Heer
davongetragen hätten. Betrachten wir zunächst die spanische Armee und Marine.


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[0189] Wehrwesen und Sozialdemokratie Die zweite Periode des deutsch-französischen Krieges liefert uns noch weitere beherzigenswerte Fingerzeige. Gewiß haben sich die republikanischen Massen¬ aufgebote häufig genug mit Bravour geschlagen, trotzdem unterlagen sie immer, selbst wenn sie fünfmal stärker als der Gegner waren. Denn der soldatische Geist fehlte ihnen; der ließ sich nicht kaufen und dem Individuum einfiltrieren. Um den Patriotismus ist es eine heilige Sache, aber er verblaßt im Regen¬ wetter, er erstarrt in den eisigen Biwaks, und er verdorrt beim langen Marsch auf sonnendurchglühter Straße. Wo die innere soldatische Tüchtigkeit, die Mannszucht fehlen, da verpufft der Patriotismus rasch, und Mißtrauen gegen die Führung (nous sonunss ti-g-mis), Unlust zum Kämpfen, zum Ertragen der Mühseligkeiten, Unbotmäßigkeit gegen die Befehle der Obern bleiben allein übrig. Ein unter solchen Umständen notwendig werdender Rückzug führt un¬ ausbleiblich zu einer Katastrophe. Die Kälte, die Marschanstrengungen, der Mangel an guter Verpflegung waren im Januar 1871 für das Werdersche Korps dieselben wie für die französische Ostarmee. Aber in welchem Zustande langte diese auf dem Gebiete der Schweiz an? Sie war Physisch und moralisch völlig zu Grunde gerichtet. Die Soldaten des großen Friedrich kannten keinen Patriotismus, aber eine eiserne Mannszucht, und mit dieser blieben sie Sieger, auch wenn sie auf dem Schlachtfelde unterlegen waren. Noch eines kommt in Betracht. Wo mehr oder minder irreguläre „Volks- wehrcn" (Freischärler, Landstürmer, Nationalgarten) Krieg führen, nimmt dieser immer einen grausamen Charakter an; denn dann heißt es Aug um Aug. Zahn um Zahn! Frankreich hat das vor achtundzwanzig Jahren am eignen Leibe erfahren. Und welches Ergebnis brachte ihm 1a Ausrrs Z. outranos? Die Verlängerung des Elends um volle fünf Monate, den Verlust von weitern fünfzigtausend jungen Leuten, von Lothringen, von drei Milliarden Kriegs¬ entschädigung, von mindestens zwei Milliarden sonstiger Einbuße und deu Kampf der Kommune. Nutzen zog aus alledem nur Herr Gambetta, dem ein „ungenannter Wohlthäter" für seine patriotischen Anstrengungen ein großes Vermögen schenkte. So lange das Zeitalter des ewigen Friedens nicht an¬ gebrochen ist, so lange demnach Kriege in Aussicht stehen, hat jedes Staats¬ wesen die Verpflichtung, sich auf die rütirng, ratio in umfassender Weise vor¬ zubereiten, um seine Selbständigkeit zu schützen. Dazu bedarf es einer gehörig organisierten, ausgerüsteten und ausgebildeten Armee. Keinesfalls jedoch wird das Ziel durch eine „Volkswehr" erreicht werden, wie sie die internationale Sozialdemokratie gegenwärtig im Auge hat. 2 Viele Tagesblätter, und zwar nicht nur solche, die sich zur Sozialdemo¬ kratie bekennen, feiern in allen Tonarten die Erfolge der Nordamerikaner gegen¬ über den Spaniern als Siege, die die „Volkswehren" über ein stehendes Heer davongetragen hätten. Betrachten wir zunächst die spanische Armee und Marine.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/189>, abgerufen am 06.05.2024.