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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Skizzen aus unserm heutigen Volksleben

Fremdenbeaufsichtigung voranging. Der Beamte, der mir meine Papiere wieder
einhändigte, war auch mit einer so revolutionären Maßregel durchaus nicht ein¬
verstanden. Als ob ich sie verschuldet hätte, knurrte er mich an: Wird bald wieder
eingeführt werden. Im allgemeinen jedoch kann ich bestätigen, daß die Beamten
der öffentlichen Sicherheit in Österreich ihre Verordnungen nicht so kleinlich bureau-
kratisch handhabten wie ihre preußischen Kollegen, wogegen sich das untere Per¬
sonal, meistens durch tschechisches Deutsch ausgezeichnet, einer Kurzcmgebundenheit
befleißigte, die gar nicht "zum Entzücken" war.




Skizzen aus unserm heutigen Volksleben
Fritz Anders von
Neue Folge
^2. Der alte Gottlieb

aß der alte Gottlieb mich einmal jung gewesen sei, dessen konnte sich
keiner erinnern mit Ausnahme der alten Brand-Rose, die ihn in
ihrer Jugend gut genug gekannt hat. Später geborne Geschlechter
kennen ihn nur unter dem Namen "der alte Gottlieb" und wissen von
ihm aus der Zeit, ehe er der alte Gottlieb wurde, soviel wie nichts.
Aber er ist auch einmal jung gewesen. Da war er ein hübscher rot¬
bäckiger Junge mit weißblondem, krausem Haar. Und sein Spielgenosse war Kuh¬
hirts Röschen. Die beiden Kinder pflegten neben einander auf dem alten Brunnen-
rvhre vor der Schmiede zu sitzen, sich Geschichten zu erzählen und Vater und Mutter
zu spielen. Gottlieb gab als ein guter Vater seinem Röschen die Hälfte seines
Wnrstbrotes, und es reichte ja für beide, denn Gottliebs Mutter pflegte ihren
Einzigen mit sehr großen Wurstbroten auszurüsten.

Du Dnmmerjcm, sagte seine Mutter, als sie einmal dazu kam, wie Gottlieb
die Hälfte seines Frühstücks weggab, das kannst du doch selber essen.

Gottlieb sah seiue Mutter verwundert an. Warum sollte er denn das ganze
Frühstück selber essen, wenn er satt war? Aber er hütete sich Wohl, es die Mutter
sehen zu lassen, wenn er seinem Röschen etwas abgab. Als die Mutter ihn doch
einmal bei seiner Mildherzigkeit überraschte, schlug sie Röschen das schöne Wurst¬
brot aus der Hand und rief zornig! Du Dummerjan, wer weggiebt, was er selber
essen kann, der wird ein Bettelmann. Das machte Eindruck. Nach einiger Zeit
machte er die Erfahrung, daß man immer noch etwas essen könne, wenn man mich
schon satt sei, und daraus ergab sich die Lebensregel, niemals etwas wegzugeben,
wenn man nicht ganz satt sei. Und darin hat es Gottlieb mit Hilfe seiner lieben
Mutter -- sein Vater war eine alte Schlafmütze, die nicht weiter in Betracht
kam -- zu einer erstaunlichen Meisterschaft gebracht. Als er erst in die Schule
gekommen war, hat es sich nie wieder ereignet, daß er sein Frühstück weggegeben hätte.


Skizzen aus unserm heutigen Volksleben

Fremdenbeaufsichtigung voranging. Der Beamte, der mir meine Papiere wieder
einhändigte, war auch mit einer so revolutionären Maßregel durchaus nicht ein¬
verstanden. Als ob ich sie verschuldet hätte, knurrte er mich an: Wird bald wieder
eingeführt werden. Im allgemeinen jedoch kann ich bestätigen, daß die Beamten
der öffentlichen Sicherheit in Österreich ihre Verordnungen nicht so kleinlich bureau-
kratisch handhabten wie ihre preußischen Kollegen, wogegen sich das untere Per¬
sonal, meistens durch tschechisches Deutsch ausgezeichnet, einer Kurzcmgebundenheit
befleißigte, die gar nicht „zum Entzücken" war.




Skizzen aus unserm heutigen Volksleben
Fritz Anders von
Neue Folge
^2. Der alte Gottlieb

aß der alte Gottlieb mich einmal jung gewesen sei, dessen konnte sich
keiner erinnern mit Ausnahme der alten Brand-Rose, die ihn in
ihrer Jugend gut genug gekannt hat. Später geborne Geschlechter
kennen ihn nur unter dem Namen „der alte Gottlieb" und wissen von
ihm aus der Zeit, ehe er der alte Gottlieb wurde, soviel wie nichts.
Aber er ist auch einmal jung gewesen. Da war er ein hübscher rot¬
bäckiger Junge mit weißblondem, krausem Haar. Und sein Spielgenosse war Kuh¬
hirts Röschen. Die beiden Kinder pflegten neben einander auf dem alten Brunnen-
rvhre vor der Schmiede zu sitzen, sich Geschichten zu erzählen und Vater und Mutter
zu spielen. Gottlieb gab als ein guter Vater seinem Röschen die Hälfte seines
Wnrstbrotes, und es reichte ja für beide, denn Gottliebs Mutter pflegte ihren
Einzigen mit sehr großen Wurstbroten auszurüsten.

Du Dnmmerjcm, sagte seine Mutter, als sie einmal dazu kam, wie Gottlieb
die Hälfte seines Frühstücks weggab, das kannst du doch selber essen.

Gottlieb sah seiue Mutter verwundert an. Warum sollte er denn das ganze
Frühstück selber essen, wenn er satt war? Aber er hütete sich Wohl, es die Mutter
sehen zu lassen, wenn er seinem Röschen etwas abgab. Als die Mutter ihn doch
einmal bei seiner Mildherzigkeit überraschte, schlug sie Röschen das schöne Wurst¬
brot aus der Hand und rief zornig! Du Dummerjan, wer weggiebt, was er selber
essen kann, der wird ein Bettelmann. Das machte Eindruck. Nach einiger Zeit
machte er die Erfahrung, daß man immer noch etwas essen könne, wenn man mich
schon satt sei, und daraus ergab sich die Lebensregel, niemals etwas wegzugeben,
wenn man nicht ganz satt sei. Und darin hat es Gottlieb mit Hilfe seiner lieben
Mutter — sein Vater war eine alte Schlafmütze, die nicht weiter in Betracht
kam — zu einer erstaunlichen Meisterschaft gebracht. Als er erst in die Schule
gekommen war, hat es sich nie wieder ereignet, daß er sein Frühstück weggegeben hätte.


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[0334] Skizzen aus unserm heutigen Volksleben Fremdenbeaufsichtigung voranging. Der Beamte, der mir meine Papiere wieder einhändigte, war auch mit einer so revolutionären Maßregel durchaus nicht ein¬ verstanden. Als ob ich sie verschuldet hätte, knurrte er mich an: Wird bald wieder eingeführt werden. Im allgemeinen jedoch kann ich bestätigen, daß die Beamten der öffentlichen Sicherheit in Österreich ihre Verordnungen nicht so kleinlich bureau- kratisch handhabten wie ihre preußischen Kollegen, wogegen sich das untere Per¬ sonal, meistens durch tschechisches Deutsch ausgezeichnet, einer Kurzcmgebundenheit befleißigte, die gar nicht „zum Entzücken" war. Skizzen aus unserm heutigen Volksleben Fritz Anders von Neue Folge ^2. Der alte Gottlieb aß der alte Gottlieb mich einmal jung gewesen sei, dessen konnte sich keiner erinnern mit Ausnahme der alten Brand-Rose, die ihn in ihrer Jugend gut genug gekannt hat. Später geborne Geschlechter kennen ihn nur unter dem Namen „der alte Gottlieb" und wissen von ihm aus der Zeit, ehe er der alte Gottlieb wurde, soviel wie nichts. Aber er ist auch einmal jung gewesen. Da war er ein hübscher rot¬ bäckiger Junge mit weißblondem, krausem Haar. Und sein Spielgenosse war Kuh¬ hirts Röschen. Die beiden Kinder pflegten neben einander auf dem alten Brunnen- rvhre vor der Schmiede zu sitzen, sich Geschichten zu erzählen und Vater und Mutter zu spielen. Gottlieb gab als ein guter Vater seinem Röschen die Hälfte seines Wnrstbrotes, und es reichte ja für beide, denn Gottliebs Mutter pflegte ihren Einzigen mit sehr großen Wurstbroten auszurüsten. Du Dnmmerjcm, sagte seine Mutter, als sie einmal dazu kam, wie Gottlieb die Hälfte seines Frühstücks weggab, das kannst du doch selber essen. Gottlieb sah seiue Mutter verwundert an. Warum sollte er denn das ganze Frühstück selber essen, wenn er satt war? Aber er hütete sich Wohl, es die Mutter sehen zu lassen, wenn er seinem Röschen etwas abgab. Als die Mutter ihn doch einmal bei seiner Mildherzigkeit überraschte, schlug sie Röschen das schöne Wurst¬ brot aus der Hand und rief zornig! Du Dummerjan, wer weggiebt, was er selber essen kann, der wird ein Bettelmann. Das machte Eindruck. Nach einiger Zeit machte er die Erfahrung, daß man immer noch etwas essen könne, wenn man mich schon satt sei, und daraus ergab sich die Lebensregel, niemals etwas wegzugeben, wenn man nicht ganz satt sei. Und darin hat es Gottlieb mit Hilfe seiner lieben Mutter — sein Vater war eine alte Schlafmütze, die nicht weiter in Betracht kam — zu einer erstaunlichen Meisterschaft gebracht. Als er erst in die Schule gekommen war, hat es sich nie wieder ereignet, daß er sein Frühstück weggegeben hätte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/334>, abgerufen am 06.05.2024.