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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Gerhart Hauptmann und sein Biograph
Rarl Kinzel von

erhart Hauptmann ist erst fünfunddreißig Jahre alt, und doch
hat er schon seinen Biographen gefunden, der uns in einem
dicken Buche von 271 Seiten seine Lebensgeschichte und seine
künstlerische Entwicklung vorführt.*) So gut haben es Schiller
und Goethe nicht gehabt, ja kaum einer vor ihm. Hoffentlich
geht es ihm nicht in anderm, vor allem in der Wertschätzung, umgekehrt wie
jenen. Hähne, die so früh krähen, frißt am Abend die Katz, sagt ein Sprich¬
wort. Aber man kann es vorläufig noch nicht wissen, ob ihm Ibsens Schicksal
erspart bleibt, der sich schon bei Lebzeiten überlebt hat. Wir gehören nun
einmal einer Zeit an, wo die Kritik und die Litteraturgeschichte mit der Pro¬
duktion Schritt zu halten und jedes bedeutendere Ereignis der unmittelbaren
Gegenwart zu bucheu und in seinem geschichtlichen Zusammenhang zu erfassen
suchen. Die Litteraturgeschichte unsrer Tage ist Gegenstand von Universitäts¬
vorlesungen wie von zahllosen Einzelschriften und Aufsatzsammlungen. Es
wäre kein Wunder, wenn die lebenden Dichter dadurch in ihrem natürlichen
Schaffen beeinflußt, ja vielfach gestört würden. Man denke dem nach, daß ein
Dichter, dem das reifere Mannesalter noch bevorsteht, Reflexionen über sich
selbst, über seine Einordnung in die Bestrebungen und Richtungen der Dicht¬
kunst liest! Es muß ein starker Charakter sein, der sich da noch frei hält und
das Wort Goethes auf sich anwenden kann: "Ich singe, wie der Vogel singt,
der in den Zweigen wohnet." Nun, bei Hauptmann wird man ja noch sehen,
ob und wohin ihn der Geist treibt, und ob es sein eigner Geist ist oder ein
fremder Impuls von innen oder von außen. Er hat mit seinen fünfunddreißig
Jahren schon eine erkleckliche Zahl von dramatischen Dichtungen geschaffen und
sich auf so verschiednen Gebieten versucht, daß es einen Mann wie Dr. Paul
Schleuther, seinen Freund und Gönner, wohl reizen konnte, dem Entwicklungs¬
gange dieses Geistes nachzuspüren. Schleuther, der langjährige Kunstprophet
und Theaterkritiker der Vossischen Zeitung, schloß diese seine Laufbahn mit
seinem Buche über Hauptmann gewissermaßen ab, als er zum Leiter des



") Gerhart Hauptmann, sein Lebensgang und eine Dichtung von Paul Schlenther.
Berlin, S, Fischer, 1898,


Gerhart Hauptmann und sein Biograph
Rarl Kinzel von

erhart Hauptmann ist erst fünfunddreißig Jahre alt, und doch
hat er schon seinen Biographen gefunden, der uns in einem
dicken Buche von 271 Seiten seine Lebensgeschichte und seine
künstlerische Entwicklung vorführt.*) So gut haben es Schiller
und Goethe nicht gehabt, ja kaum einer vor ihm. Hoffentlich
geht es ihm nicht in anderm, vor allem in der Wertschätzung, umgekehrt wie
jenen. Hähne, die so früh krähen, frißt am Abend die Katz, sagt ein Sprich¬
wort. Aber man kann es vorläufig noch nicht wissen, ob ihm Ibsens Schicksal
erspart bleibt, der sich schon bei Lebzeiten überlebt hat. Wir gehören nun
einmal einer Zeit an, wo die Kritik und die Litteraturgeschichte mit der Pro¬
duktion Schritt zu halten und jedes bedeutendere Ereignis der unmittelbaren
Gegenwart zu bucheu und in seinem geschichtlichen Zusammenhang zu erfassen
suchen. Die Litteraturgeschichte unsrer Tage ist Gegenstand von Universitäts¬
vorlesungen wie von zahllosen Einzelschriften und Aufsatzsammlungen. Es
wäre kein Wunder, wenn die lebenden Dichter dadurch in ihrem natürlichen
Schaffen beeinflußt, ja vielfach gestört würden. Man denke dem nach, daß ein
Dichter, dem das reifere Mannesalter noch bevorsteht, Reflexionen über sich
selbst, über seine Einordnung in die Bestrebungen und Richtungen der Dicht¬
kunst liest! Es muß ein starker Charakter sein, der sich da noch frei hält und
das Wort Goethes auf sich anwenden kann: „Ich singe, wie der Vogel singt,
der in den Zweigen wohnet." Nun, bei Hauptmann wird man ja noch sehen,
ob und wohin ihn der Geist treibt, und ob es sein eigner Geist ist oder ein
fremder Impuls von innen oder von außen. Er hat mit seinen fünfunddreißig
Jahren schon eine erkleckliche Zahl von dramatischen Dichtungen geschaffen und
sich auf so verschiednen Gebieten versucht, daß es einen Mann wie Dr. Paul
Schleuther, seinen Freund und Gönner, wohl reizen konnte, dem Entwicklungs¬
gange dieses Geistes nachzuspüren. Schleuther, der langjährige Kunstprophet
und Theaterkritiker der Vossischen Zeitung, schloß diese seine Laufbahn mit
seinem Buche über Hauptmann gewissermaßen ab, als er zum Leiter des



») Gerhart Hauptmann, sein Lebensgang und eine Dichtung von Paul Schlenther.
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[0038] [Abbildung] Gerhart Hauptmann und sein Biograph Rarl Kinzel von erhart Hauptmann ist erst fünfunddreißig Jahre alt, und doch hat er schon seinen Biographen gefunden, der uns in einem dicken Buche von 271 Seiten seine Lebensgeschichte und seine künstlerische Entwicklung vorführt.*) So gut haben es Schiller und Goethe nicht gehabt, ja kaum einer vor ihm. Hoffentlich geht es ihm nicht in anderm, vor allem in der Wertschätzung, umgekehrt wie jenen. Hähne, die so früh krähen, frißt am Abend die Katz, sagt ein Sprich¬ wort. Aber man kann es vorläufig noch nicht wissen, ob ihm Ibsens Schicksal erspart bleibt, der sich schon bei Lebzeiten überlebt hat. Wir gehören nun einmal einer Zeit an, wo die Kritik und die Litteraturgeschichte mit der Pro¬ duktion Schritt zu halten und jedes bedeutendere Ereignis der unmittelbaren Gegenwart zu bucheu und in seinem geschichtlichen Zusammenhang zu erfassen suchen. Die Litteraturgeschichte unsrer Tage ist Gegenstand von Universitäts¬ vorlesungen wie von zahllosen Einzelschriften und Aufsatzsammlungen. Es wäre kein Wunder, wenn die lebenden Dichter dadurch in ihrem natürlichen Schaffen beeinflußt, ja vielfach gestört würden. Man denke dem nach, daß ein Dichter, dem das reifere Mannesalter noch bevorsteht, Reflexionen über sich selbst, über seine Einordnung in die Bestrebungen und Richtungen der Dicht¬ kunst liest! Es muß ein starker Charakter sein, der sich da noch frei hält und das Wort Goethes auf sich anwenden kann: „Ich singe, wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet." Nun, bei Hauptmann wird man ja noch sehen, ob und wohin ihn der Geist treibt, und ob es sein eigner Geist ist oder ein fremder Impuls von innen oder von außen. Er hat mit seinen fünfunddreißig Jahren schon eine erkleckliche Zahl von dramatischen Dichtungen geschaffen und sich auf so verschiednen Gebieten versucht, daß es einen Mann wie Dr. Paul Schleuther, seinen Freund und Gönner, wohl reizen konnte, dem Entwicklungs¬ gange dieses Geistes nachzuspüren. Schleuther, der langjährige Kunstprophet und Theaterkritiker der Vossischen Zeitung, schloß diese seine Laufbahn mit seinem Buche über Hauptmann gewissermaßen ab, als er zum Leiter des ») Gerhart Hauptmann, sein Lebensgang und eine Dichtung von Paul Schlenther. Berlin, S, Fischer, 1898,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/38>, abgerufen am 06.05.2024.