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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Reinhold
Carl Ientsch von(Schluß)

on Schaffte urteilt Reinhold, sein Hauptwerk laufe ja doch
nur auf eine Anerkennung des Bestehenden hinaus, indem er
die Ungleichheit der Einkommen nicht anfechte, sondern recht¬
fertige. "Wozu der Aufwand an Gelehrsamkeit, an Tempera¬
ment, an Bekämpfung des Bestehenden, wenn nichts weiter dabei
herauskommt, als was die historische Gesellschaft behauptet und zugiebt?"
nämlich daß dem Arbeiter das zum Leben Notwendige gesichert werden müsse.
Das giebt aber der malthusianisch gesinnte Teil der "historischen" Gesellschaft
eben nicht zu, und das gerade ist eine der Kernfragen, die theoretisch untersucht
werden müssen, wenn man nicht will, daß mit Dolch und Dynamik darum
gestritten werde. Und dann: wozu der Aufwand an Lesefrüchten, an Tem¬
perament und an Bekämpfung der nationalökonomischen Theorien, die auch
zum Bestehenden gehören, wenn dabei gar nichts herauskommt? Schciffles
Werk, das vor kurzem eine neue Auflage erlebt hat, wird immerhin noch ein
paar Jahrzehnte lang von etlichen tausend Männern und Jünglingen studiert
werden, ob aber Reinholds Buch auch nur einen einzigen Geduldigen findet,
der es Wort für Wort liest, das ist noch sehr die Frage. Ich wenigstens
habe so manche Zeile, so manche halbe Seite überschlagen, was ich mir bei
einem Buche, bei einem Aufsatze von Schcisfle niemals erlaube. Und endlich,
was kommt denn, grob praktisch verstanden, bei den Geisteswissenschaften -- bei
den Naturwissenschaften ists ja anders -- überhaupt heraus? Was kommt
denn z. B. bei Reinholds ursprünglicher Fachwissenschaft, bei der Jurisprudenz,
heraus? Vermindert sie die Verbrechen? Vermindert sie die Rechtshändel?
Macht sie, daß das Volk immer zufriedner wird mit der Rechtspflege? Sollte
Reinhold antworten: Sie macht der Selbsthilfe und dem Faustrecht ein Ende
und schafft eine gesetzliche Ordnung, so würde ich entgegnen: Nein, das thut
sie ganz und gar nicht, das thut die Staatsordnung, das thut die Rechtspflege,
und beide sind vorhanden gewesen und haben jene Leistungen vollbracht, ehe


Grenzboten I 1899 54


Reinhold
Carl Ientsch von(Schluß)

on Schaffte urteilt Reinhold, sein Hauptwerk laufe ja doch
nur auf eine Anerkennung des Bestehenden hinaus, indem er
die Ungleichheit der Einkommen nicht anfechte, sondern recht¬
fertige. „Wozu der Aufwand an Gelehrsamkeit, an Tempera¬
ment, an Bekämpfung des Bestehenden, wenn nichts weiter dabei
herauskommt, als was die historische Gesellschaft behauptet und zugiebt?"
nämlich daß dem Arbeiter das zum Leben Notwendige gesichert werden müsse.
Das giebt aber der malthusianisch gesinnte Teil der „historischen" Gesellschaft
eben nicht zu, und das gerade ist eine der Kernfragen, die theoretisch untersucht
werden müssen, wenn man nicht will, daß mit Dolch und Dynamik darum
gestritten werde. Und dann: wozu der Aufwand an Lesefrüchten, an Tem¬
perament und an Bekämpfung der nationalökonomischen Theorien, die auch
zum Bestehenden gehören, wenn dabei gar nichts herauskommt? Schciffles
Werk, das vor kurzem eine neue Auflage erlebt hat, wird immerhin noch ein
paar Jahrzehnte lang von etlichen tausend Männern und Jünglingen studiert
werden, ob aber Reinholds Buch auch nur einen einzigen Geduldigen findet,
der es Wort für Wort liest, das ist noch sehr die Frage. Ich wenigstens
habe so manche Zeile, so manche halbe Seite überschlagen, was ich mir bei
einem Buche, bei einem Aufsatze von Schcisfle niemals erlaube. Und endlich,
was kommt denn, grob praktisch verstanden, bei den Geisteswissenschaften — bei
den Naturwissenschaften ists ja anders — überhaupt heraus? Was kommt
denn z. B. bei Reinholds ursprünglicher Fachwissenschaft, bei der Jurisprudenz,
heraus? Vermindert sie die Verbrechen? Vermindert sie die Rechtshändel?
Macht sie, daß das Volk immer zufriedner wird mit der Rechtspflege? Sollte
Reinhold antworten: Sie macht der Selbsthilfe und dem Faustrecht ein Ende
und schafft eine gesetzliche Ordnung, so würde ich entgegnen: Nein, das thut
sie ganz und gar nicht, das thut die Staatsordnung, das thut die Rechtspflege,
und beide sind vorhanden gewesen und haben jene Leistungen vollbracht, ehe


Grenzboten I 1899 54
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[0433] [Abbildung] Reinhold Carl Ientsch von(Schluß) on Schaffte urteilt Reinhold, sein Hauptwerk laufe ja doch nur auf eine Anerkennung des Bestehenden hinaus, indem er die Ungleichheit der Einkommen nicht anfechte, sondern recht¬ fertige. „Wozu der Aufwand an Gelehrsamkeit, an Tempera¬ ment, an Bekämpfung des Bestehenden, wenn nichts weiter dabei herauskommt, als was die historische Gesellschaft behauptet und zugiebt?" nämlich daß dem Arbeiter das zum Leben Notwendige gesichert werden müsse. Das giebt aber der malthusianisch gesinnte Teil der „historischen" Gesellschaft eben nicht zu, und das gerade ist eine der Kernfragen, die theoretisch untersucht werden müssen, wenn man nicht will, daß mit Dolch und Dynamik darum gestritten werde. Und dann: wozu der Aufwand an Lesefrüchten, an Tem¬ perament und an Bekämpfung der nationalökonomischen Theorien, die auch zum Bestehenden gehören, wenn dabei gar nichts herauskommt? Schciffles Werk, das vor kurzem eine neue Auflage erlebt hat, wird immerhin noch ein paar Jahrzehnte lang von etlichen tausend Männern und Jünglingen studiert werden, ob aber Reinholds Buch auch nur einen einzigen Geduldigen findet, der es Wort für Wort liest, das ist noch sehr die Frage. Ich wenigstens habe so manche Zeile, so manche halbe Seite überschlagen, was ich mir bei einem Buche, bei einem Aufsatze von Schcisfle niemals erlaube. Und endlich, was kommt denn, grob praktisch verstanden, bei den Geisteswissenschaften — bei den Naturwissenschaften ists ja anders — überhaupt heraus? Was kommt denn z. B. bei Reinholds ursprünglicher Fachwissenschaft, bei der Jurisprudenz, heraus? Vermindert sie die Verbrechen? Vermindert sie die Rechtshändel? Macht sie, daß das Volk immer zufriedner wird mit der Rechtspflege? Sollte Reinhold antworten: Sie macht der Selbsthilfe und dem Faustrecht ein Ende und schafft eine gesetzliche Ordnung, so würde ich entgegnen: Nein, das thut sie ganz und gar nicht, das thut die Staatsordnung, das thut die Rechtspflege, und beide sind vorhanden gewesen und haben jene Leistungen vollbracht, ehe Grenzboten I 1899 54

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/433>, abgerufen am 06.05.2024.