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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Reinhold

es juristische Bücher und Professoren der Rechtswissenschaft gegeben hat. Nichts
gefährlicher für alle Fakultäten und Akademien, als wenn die Frage aufgeworfen
wird: Was leisten sie denn eigentlich in der Praxis? Wozu der Aufwand?

Reinhold thut, als wenn die Thätigkeit der "Kathedersozialisten" eine
ganz neue Erscheinung wäre. Aber es ist von Moses, Solon und dem Pro¬
pheten Jesajas an immer Brauch der Staatsweisen gewesen, das Bestehende
zu kritisieren und teilweise oder ganz verwerflich zu finden. Dagegen findet
man bei Reinhold manches, was wirklich ganz neu ist. So z. B. erklärt er
sS. 504) die großen Vermögensungleichheiten für "naturwüchsig" und hält
es für sehr unrecht, daß Leute wie Adolf Wagner darin ein Unheil sehen und
den großen Besitz auf seine Rechtmäßigkeit prüfen. Nun, die großen Staats¬
weisen aller Zeiten, von Lykurg und Moses bis auf den Kanzler Thomas
Morus und von Aristoteles bis auf Luther und Fichte haben ganz ebenso ge¬
dacht und gesprochen wie Wagner. Des Aristoteles Bedeutung ist durch den
Umstand hinlänglich erwiesen, daß seine Bücher heute noch, über zweitausend
Jahre nach seinem Tode, verehrt und studiert werden; wer wird nach zwei¬
hundert Jahren noch Reinholds Namen kennen und sein Buch lesen?

Reinhold mag nun wohl gefühlt haben, daß seine in den Nihilismus
auslaufende Polemik gegen die Sozialisten und Nationalökonomen ihm nicht
einmal von deren grimmigsten Feinden Dank eintragen würde, wenn er gar
nichts Positives zu bieten habe, und er hängt deshalb am Schluß allerlei
Redensarten daran, die positiv aussehen. Er empfiehlt von Seite 419 ab den
Staat, besonders den preußischen. Es gelte einen Kampf um die Freiheit.
"Und da die bessere Einsicht, die Sittlichkeit oder selbst die Religion allein
dem einzelnen Willen noch niemals seine Beute abgejagt hat, so kann nur die
Macht, d. h. der organisierte allgemeine Wille der Unterdrückung des fremden
Lebens vorbeugen. Der Staat allein vermag als übergeordneter, mit Voll¬
macht und Mitteln ausgestatteter Wille den ungezügelten Sonderwillen in seine
Schranken zu weisen." Das ist, aufs wirtschaftliche Leben angewandt, ent¬
weder eine Empfehlung des Staatssozialismus, oder es hat gar keinen Sinn.
Wenn es einmal feststeht, daß die Interessen der Einzelnen in unversöhnlichem
Gegensatz zu einander stehn, und daß jeder durch die Bejahung des eignen
Lebens das Leben aller andern oder wenigstens einiger andern verneint, dann
ist ein allgemeiner Wille nicht möglich. Höchstens kann es zum Gemeinwillen
einer herrschenden Kaste kommen. Die Mächtigsten im Staate können finden,
daß sie nicht einander gegenseitig, sondern nur die Masse der Armem zu unter¬
drücken brauchen, wenn sie sich selbst das Leben sichern wollen, das sie



") Nicht etwa zu verneinen, wie man nach Reinhold eigentlich sagen müßte; giebts doch
ohne Arme gar leine Reichen.
Reinhold

es juristische Bücher und Professoren der Rechtswissenschaft gegeben hat. Nichts
gefährlicher für alle Fakultäten und Akademien, als wenn die Frage aufgeworfen
wird: Was leisten sie denn eigentlich in der Praxis? Wozu der Aufwand?

Reinhold thut, als wenn die Thätigkeit der „Kathedersozialisten" eine
ganz neue Erscheinung wäre. Aber es ist von Moses, Solon und dem Pro¬
pheten Jesajas an immer Brauch der Staatsweisen gewesen, das Bestehende
zu kritisieren und teilweise oder ganz verwerflich zu finden. Dagegen findet
man bei Reinhold manches, was wirklich ganz neu ist. So z. B. erklärt er
sS. 504) die großen Vermögensungleichheiten für „naturwüchsig" und hält
es für sehr unrecht, daß Leute wie Adolf Wagner darin ein Unheil sehen und
den großen Besitz auf seine Rechtmäßigkeit prüfen. Nun, die großen Staats¬
weisen aller Zeiten, von Lykurg und Moses bis auf den Kanzler Thomas
Morus und von Aristoteles bis auf Luther und Fichte haben ganz ebenso ge¬
dacht und gesprochen wie Wagner. Des Aristoteles Bedeutung ist durch den
Umstand hinlänglich erwiesen, daß seine Bücher heute noch, über zweitausend
Jahre nach seinem Tode, verehrt und studiert werden; wer wird nach zwei¬
hundert Jahren noch Reinholds Namen kennen und sein Buch lesen?

Reinhold mag nun wohl gefühlt haben, daß seine in den Nihilismus
auslaufende Polemik gegen die Sozialisten und Nationalökonomen ihm nicht
einmal von deren grimmigsten Feinden Dank eintragen würde, wenn er gar
nichts Positives zu bieten habe, und er hängt deshalb am Schluß allerlei
Redensarten daran, die positiv aussehen. Er empfiehlt von Seite 419 ab den
Staat, besonders den preußischen. Es gelte einen Kampf um die Freiheit.
„Und da die bessere Einsicht, die Sittlichkeit oder selbst die Religion allein
dem einzelnen Willen noch niemals seine Beute abgejagt hat, so kann nur die
Macht, d. h. der organisierte allgemeine Wille der Unterdrückung des fremden
Lebens vorbeugen. Der Staat allein vermag als übergeordneter, mit Voll¬
macht und Mitteln ausgestatteter Wille den ungezügelten Sonderwillen in seine
Schranken zu weisen." Das ist, aufs wirtschaftliche Leben angewandt, ent¬
weder eine Empfehlung des Staatssozialismus, oder es hat gar keinen Sinn.
Wenn es einmal feststeht, daß die Interessen der Einzelnen in unversöhnlichem
Gegensatz zu einander stehn, und daß jeder durch die Bejahung des eignen
Lebens das Leben aller andern oder wenigstens einiger andern verneint, dann
ist ein allgemeiner Wille nicht möglich. Höchstens kann es zum Gemeinwillen
einer herrschenden Kaste kommen. Die Mächtigsten im Staate können finden,
daß sie nicht einander gegenseitig, sondern nur die Masse der Armem zu unter¬
drücken brauchen, wenn sie sich selbst das Leben sichern wollen, das sie



") Nicht etwa zu verneinen, wie man nach Reinhold eigentlich sagen müßte; giebts doch
ohne Arme gar leine Reichen.
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[0434] Reinhold es juristische Bücher und Professoren der Rechtswissenschaft gegeben hat. Nichts gefährlicher für alle Fakultäten und Akademien, als wenn die Frage aufgeworfen wird: Was leisten sie denn eigentlich in der Praxis? Wozu der Aufwand? Reinhold thut, als wenn die Thätigkeit der „Kathedersozialisten" eine ganz neue Erscheinung wäre. Aber es ist von Moses, Solon und dem Pro¬ pheten Jesajas an immer Brauch der Staatsweisen gewesen, das Bestehende zu kritisieren und teilweise oder ganz verwerflich zu finden. Dagegen findet man bei Reinhold manches, was wirklich ganz neu ist. So z. B. erklärt er sS. 504) die großen Vermögensungleichheiten für „naturwüchsig" und hält es für sehr unrecht, daß Leute wie Adolf Wagner darin ein Unheil sehen und den großen Besitz auf seine Rechtmäßigkeit prüfen. Nun, die großen Staats¬ weisen aller Zeiten, von Lykurg und Moses bis auf den Kanzler Thomas Morus und von Aristoteles bis auf Luther und Fichte haben ganz ebenso ge¬ dacht und gesprochen wie Wagner. Des Aristoteles Bedeutung ist durch den Umstand hinlänglich erwiesen, daß seine Bücher heute noch, über zweitausend Jahre nach seinem Tode, verehrt und studiert werden; wer wird nach zwei¬ hundert Jahren noch Reinholds Namen kennen und sein Buch lesen? Reinhold mag nun wohl gefühlt haben, daß seine in den Nihilismus auslaufende Polemik gegen die Sozialisten und Nationalökonomen ihm nicht einmal von deren grimmigsten Feinden Dank eintragen würde, wenn er gar nichts Positives zu bieten habe, und er hängt deshalb am Schluß allerlei Redensarten daran, die positiv aussehen. Er empfiehlt von Seite 419 ab den Staat, besonders den preußischen. Es gelte einen Kampf um die Freiheit. „Und da die bessere Einsicht, die Sittlichkeit oder selbst die Religion allein dem einzelnen Willen noch niemals seine Beute abgejagt hat, so kann nur die Macht, d. h. der organisierte allgemeine Wille der Unterdrückung des fremden Lebens vorbeugen. Der Staat allein vermag als übergeordneter, mit Voll¬ macht und Mitteln ausgestatteter Wille den ungezügelten Sonderwillen in seine Schranken zu weisen." Das ist, aufs wirtschaftliche Leben angewandt, ent¬ weder eine Empfehlung des Staatssozialismus, oder es hat gar keinen Sinn. Wenn es einmal feststeht, daß die Interessen der Einzelnen in unversöhnlichem Gegensatz zu einander stehn, und daß jeder durch die Bejahung des eignen Lebens das Leben aller andern oder wenigstens einiger andern verneint, dann ist ein allgemeiner Wille nicht möglich. Höchstens kann es zum Gemeinwillen einer herrschenden Kaste kommen. Die Mächtigsten im Staate können finden, daß sie nicht einander gegenseitig, sondern nur die Masse der Armem zu unter¬ drücken brauchen, wenn sie sich selbst das Leben sichern wollen, das sie ") Nicht etwa zu verneinen, wie man nach Reinhold eigentlich sagen müßte; giebts doch ohne Arme gar leine Reichen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/434>, abgerufen am 27.05.2024.