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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Das tolle Jahr in einer kleinen ^labt")
Lrnst Borkowsky vonin

n dem tollen Jahre 1848 würm es natürlich zunächst die Gro߬
städte, deren leicht erregte Bevölkerung vom Wirbelstur"? der Freiheits¬
und Gleichhcitsschwärmerei dahiugerissen wurde; dann aber brauste
die Flut auch zu den Thoren der Proviuzialstädte heran. Wer die
Artikel der winzigen Tageblätter, die Maueranschläge, die Flugschriften
und die Auszeichungen aus der Großväterzeit sammelt, sieht wohl,
daß der Pulsschlag der Zeit selbst durch die kleinen Seelen des deutschen Staats-
kurpers in tiefer Erregung ging; ja man möchte meinen, was das Bürgertum hier
gefühlt, gehofft und erstrebt hat, gerade das müßte thpisch sein für den Volksgeist
dieser Tage.

In der Stadt Naumburg an der Saale, dem Hauptort der alten Stiftslande,
die noch bis zum Jahre 1813 uuter sächsischer Administration ein staatliches Sonder¬
dasein geführt hatten, hatte sich uuter der Bürgerschaft ein kräftiges, von einer
lebhafte" historischen Erinnerung getragnes Selbstbewußtsein entwickelt, das durch
die Bedeutung der ehrwürdigen Peter-Paulsmesse noch gesteigert wurde. Der
Rückgang des Handels freilich machte sich unter dem preußischen Regime seit der
Einführung des neuen Zollshstems von Jahr zu Jahr empfindlicher geltend, und
immer seltner wurde die Gelegenheit, durch die der Knufmcmnsstand noch eine un¬
mittelbare Fühlung mit dem Auslande gewunn. Durch die Verlegung der höchsten
Proviuzialgerichtsbarkeit nach der Stadt (1816) kam ein starkes fremdes Element
in die altsächsische Bevölkerung hinein: das preußische Beamtentum; bald aber ver¬
schmolz es mit den wohlhabenden .Kreisen des Bürgertums und riß die Führung
der Gesellschaft an sich. Auch der Triumphzug der Dampfmaschine änderte nichts
an dieser Znsammensetzung; die lärmende Industrie blieb den Mauern fern und
verschonte die Kommune mit der Pflanzschule eines lästige" Proletariats. Das
Gemeinwesen, dnrch die preußische Städteordnung reformiert, hatte sich die Errungen¬
schaften des umgestalteten materiellen Lebens zu nütze gemacht; und wenn auch quer
über den Straße" noch die spärlichen Öllaterueu schwebten und damals noch die
goldne Zeit der Originale war, so hatte sich die Stadt doch schon ii" Jahre 1846
ein das damals entstehende deutsche Eiseubahnneh angeschlossen. Auch die Volks¬
zahl war stetig vorwärts geschritten; man zählte im Jahre 1848 13 000 Ein¬
wohner.

Wollte man die Lebenserscheinungen der damaligen bürgerlichen Gemeinde
nur an den Äußerungen prüfen, die sich in der Lokalzeitung kundgaben, so würde
man einen völlig unzulänglichen Eindruck gewinnen. Die vormärzliche Journalistik
der Kleinstadt dachte nicht daran, zu den bewegenden Fragen des Tages Stellung



*) Mit Benutzung von Tageblättern, Flugschriften und handschriftlichen Aufzeichnungen.


Das tolle Jahr in einer kleinen ^labt")
Lrnst Borkowsky vonin

n dem tollen Jahre 1848 würm es natürlich zunächst die Gro߬
städte, deren leicht erregte Bevölkerung vom Wirbelstur»? der Freiheits¬
und Gleichhcitsschwärmerei dahiugerissen wurde; dann aber brauste
die Flut auch zu den Thoren der Proviuzialstädte heran. Wer die
Artikel der winzigen Tageblätter, die Maueranschläge, die Flugschriften
und die Auszeichungen aus der Großväterzeit sammelt, sieht wohl,
daß der Pulsschlag der Zeit selbst durch die kleinen Seelen des deutschen Staats-
kurpers in tiefer Erregung ging; ja man möchte meinen, was das Bürgertum hier
gefühlt, gehofft und erstrebt hat, gerade das müßte thpisch sein für den Volksgeist
dieser Tage.

In der Stadt Naumburg an der Saale, dem Hauptort der alten Stiftslande,
die noch bis zum Jahre 1813 uuter sächsischer Administration ein staatliches Sonder¬
dasein geführt hatten, hatte sich uuter der Bürgerschaft ein kräftiges, von einer
lebhafte» historischen Erinnerung getragnes Selbstbewußtsein entwickelt, das durch
die Bedeutung der ehrwürdigen Peter-Paulsmesse noch gesteigert wurde. Der
Rückgang des Handels freilich machte sich unter dem preußischen Regime seit der
Einführung des neuen Zollshstems von Jahr zu Jahr empfindlicher geltend, und
immer seltner wurde die Gelegenheit, durch die der Knufmcmnsstand noch eine un¬
mittelbare Fühlung mit dem Auslande gewunn. Durch die Verlegung der höchsten
Proviuzialgerichtsbarkeit nach der Stadt (1816) kam ein starkes fremdes Element
in die altsächsische Bevölkerung hinein: das preußische Beamtentum; bald aber ver¬
schmolz es mit den wohlhabenden .Kreisen des Bürgertums und riß die Führung
der Gesellschaft an sich. Auch der Triumphzug der Dampfmaschine änderte nichts
an dieser Znsammensetzung; die lärmende Industrie blieb den Mauern fern und
verschonte die Kommune mit der Pflanzschule eines lästige» Proletariats. Das
Gemeinwesen, dnrch die preußische Städteordnung reformiert, hatte sich die Errungen¬
schaften des umgestalteten materiellen Lebens zu nütze gemacht; und wenn auch quer
über den Straße» noch die spärlichen Öllaterueu schwebten und damals noch die
goldne Zeit der Originale war, so hatte sich die Stadt doch schon ii» Jahre 1846
ein das damals entstehende deutsche Eiseubahnneh angeschlossen. Auch die Volks¬
zahl war stetig vorwärts geschritten; man zählte im Jahre 1848 13 000 Ein¬
wohner.

Wollte man die Lebenserscheinungen der damaligen bürgerlichen Gemeinde
nur an den Äußerungen prüfen, die sich in der Lokalzeitung kundgaben, so würde
man einen völlig unzulänglichen Eindruck gewinnen. Die vormärzliche Journalistik
der Kleinstadt dachte nicht daran, zu den bewegenden Fragen des Tages Stellung



*) Mit Benutzung von Tageblättern, Flugschriften und handschriftlichen Aufzeichnungen.
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[0104] [Abbildung] Das tolle Jahr in einer kleinen ^labt") Lrnst Borkowsky vonin n dem tollen Jahre 1848 würm es natürlich zunächst die Gro߬ städte, deren leicht erregte Bevölkerung vom Wirbelstur»? der Freiheits¬ und Gleichhcitsschwärmerei dahiugerissen wurde; dann aber brauste die Flut auch zu den Thoren der Proviuzialstädte heran. Wer die Artikel der winzigen Tageblätter, die Maueranschläge, die Flugschriften und die Auszeichungen aus der Großväterzeit sammelt, sieht wohl, daß der Pulsschlag der Zeit selbst durch die kleinen Seelen des deutschen Staats- kurpers in tiefer Erregung ging; ja man möchte meinen, was das Bürgertum hier gefühlt, gehofft und erstrebt hat, gerade das müßte thpisch sein für den Volksgeist dieser Tage. In der Stadt Naumburg an der Saale, dem Hauptort der alten Stiftslande, die noch bis zum Jahre 1813 uuter sächsischer Administration ein staatliches Sonder¬ dasein geführt hatten, hatte sich uuter der Bürgerschaft ein kräftiges, von einer lebhafte» historischen Erinnerung getragnes Selbstbewußtsein entwickelt, das durch die Bedeutung der ehrwürdigen Peter-Paulsmesse noch gesteigert wurde. Der Rückgang des Handels freilich machte sich unter dem preußischen Regime seit der Einführung des neuen Zollshstems von Jahr zu Jahr empfindlicher geltend, und immer seltner wurde die Gelegenheit, durch die der Knufmcmnsstand noch eine un¬ mittelbare Fühlung mit dem Auslande gewunn. Durch die Verlegung der höchsten Proviuzialgerichtsbarkeit nach der Stadt (1816) kam ein starkes fremdes Element in die altsächsische Bevölkerung hinein: das preußische Beamtentum; bald aber ver¬ schmolz es mit den wohlhabenden .Kreisen des Bürgertums und riß die Führung der Gesellschaft an sich. Auch der Triumphzug der Dampfmaschine änderte nichts an dieser Znsammensetzung; die lärmende Industrie blieb den Mauern fern und verschonte die Kommune mit der Pflanzschule eines lästige» Proletariats. Das Gemeinwesen, dnrch die preußische Städteordnung reformiert, hatte sich die Errungen¬ schaften des umgestalteten materiellen Lebens zu nütze gemacht; und wenn auch quer über den Straße» noch die spärlichen Öllaterueu schwebten und damals noch die goldne Zeit der Originale war, so hatte sich die Stadt doch schon ii» Jahre 1846 ein das damals entstehende deutsche Eiseubahnneh angeschlossen. Auch die Volks¬ zahl war stetig vorwärts geschritten; man zählte im Jahre 1848 13 000 Ein¬ wohner. Wollte man die Lebenserscheinungen der damaligen bürgerlichen Gemeinde nur an den Äußerungen prüfen, die sich in der Lokalzeitung kundgaben, so würde man einen völlig unzulänglichen Eindruck gewinnen. Die vormärzliche Journalistik der Kleinstadt dachte nicht daran, zu den bewegenden Fragen des Tages Stellung *) Mit Benutzung von Tageblättern, Flugschriften und handschriftlichen Aufzeichnungen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/104>, abgerufen am 30.04.2024.