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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Zur Bismarck-Litteratur
Veto Raemmel von

WWVmeer den zahlreichen litterarischen Erscheinungen, die sich seit Fürst
Bismarcks Tode mit ihm und seinem Wirken beschäftigen, nimmt der
sechste Band des Bismarck-Jahrbuchs von Horst Kohl (Leipzig,
Göschen, 1899) eine der ersten Stellen ein Er enthält in seiner
ersten Abteilung "Urkunden und Briefe," von diesen wieder ganze
Gruppen und Reihen von Schreiben Bismarcks und bedeutender Zeit¬
genossen an ihn, die bei weitem ihrer Hauptmasse nach die Zeit vor 1871 betreffen.
Das meiste Interesse erwecken darunter mehr oder weniger ausgedehnte und ge¬
schlossene Briefwechsel. Verhältnismäßig von geringer Bedeutung ist der zwischen
Bismarck und Balen aus den Jahren 185ö bis 18S8, also aus Bismarcks
Frankfurter Zeit, dem noch einige vereinzelte Stücke ans den Jahren 1364,
186K und 1873 beigefügt sind; sehr interessant und bedeutend dagegen ist die
vom November 1861 bis in den Mui 1863 hierin fast lückenlose und ziemlich
rege Korrespondenz zwischen Bismarck und Graf Bernstorff, denn sie zeigt uns
Bismarck während seiner letzten Petersburger und seiner Pariser Thätigkeit und
in den Anfängen seines Ministeriums, während Bernstorff anfangs sein Vor¬
gesetzter als Münster des Auswärtigen, seit September 1862 sein Untergebner
als Botschafter in London war. Die Briefe, fast ganz politischen Inhalts, sind
häufig vertrauliche Privatmitteilungen zur Ergänzung gleichzeitiger amtlicher Be¬
richte, die wohl auch manches sagen, was in diesen nicht stand. Wieder tritt dabei,
selbst gegenüber einem keinesfalls unbedeutenden Manne, wie es Graf Bernstorff ohne
Zweifel war, die ungeheure Überlegenheit Bismarcks hervor. Mit gleich souveräner
Sicherheit durchschaut und beurteilt er die Verhältnisse fremder Höfe, wie die
Dinge daheim und die verwickeltsten Weltverhältnisse. In Petersburg kündigte sich
schon damals die Wendung an, die schließlich die russische Flotte unes Toulon, die
französische nach Kronstäbe führte. Nur Kaiser Alexander II. und einige Persön¬
lichkeiten seiner Familie hielten noch an der traditionellen Freundschaft für Preußen
fest, die übrige Hofgesellschaft ließ zwar die engen Beziehungen beider Höfe noch
gelten, übertrug sie aber nicht mehr auf die beiden Staaten, wofür Bismarck vor
allem die neue "nationale" Bildung dieser Kreise seit Nikolaus I. verantwortlich
macht, die sie der westeuropäischen Kultur entfremdet habe und ihnen doch, weil
sie großen Aufgaben nicht mehr gewachsen seien, in allen Verwaltungszweigen
deutsche Hilfsarbeiter unentbehrlich mache. Dabei herrschte infolge der Aufhebung
der Leibeigenschaft (3. März 1361) in dem halbruinierten Adel die tiefste Ver¬
stimmung gegen den Kaiser, die gebildeten Klassen neigten zum Liberalismus, sodaß
mau selbst mit Alexander Herzen (S. 111 steht verdrückt Herzen), dem Verbannten
Führer der radikalen Demokratie, verkehrte, und der alte Kanzler Graf Nesselrode
sich eigentlich nur noch eins die Armee verließ. Diese innern Angelegenheiten über-


Grenzboten II 1899 U>


Zur Bismarck-Litteratur
Veto Raemmel von

WWVmeer den zahlreichen litterarischen Erscheinungen, die sich seit Fürst
Bismarcks Tode mit ihm und seinem Wirken beschäftigen, nimmt der
sechste Band des Bismarck-Jahrbuchs von Horst Kohl (Leipzig,
Göschen, 1899) eine der ersten Stellen ein Er enthält in seiner
ersten Abteilung „Urkunden und Briefe," von diesen wieder ganze
Gruppen und Reihen von Schreiben Bismarcks und bedeutender Zeit¬
genossen an ihn, die bei weitem ihrer Hauptmasse nach die Zeit vor 1871 betreffen.
Das meiste Interesse erwecken darunter mehr oder weniger ausgedehnte und ge¬
schlossene Briefwechsel. Verhältnismäßig von geringer Bedeutung ist der zwischen
Bismarck und Balen aus den Jahren 185ö bis 18S8, also aus Bismarcks
Frankfurter Zeit, dem noch einige vereinzelte Stücke ans den Jahren 1364,
186K und 1873 beigefügt sind; sehr interessant und bedeutend dagegen ist die
vom November 1861 bis in den Mui 1863 hierin fast lückenlose und ziemlich
rege Korrespondenz zwischen Bismarck und Graf Bernstorff, denn sie zeigt uns
Bismarck während seiner letzten Petersburger und seiner Pariser Thätigkeit und
in den Anfängen seines Ministeriums, während Bernstorff anfangs sein Vor¬
gesetzter als Münster des Auswärtigen, seit September 1862 sein Untergebner
als Botschafter in London war. Die Briefe, fast ganz politischen Inhalts, sind
häufig vertrauliche Privatmitteilungen zur Ergänzung gleichzeitiger amtlicher Be¬
richte, die wohl auch manches sagen, was in diesen nicht stand. Wieder tritt dabei,
selbst gegenüber einem keinesfalls unbedeutenden Manne, wie es Graf Bernstorff ohne
Zweifel war, die ungeheure Überlegenheit Bismarcks hervor. Mit gleich souveräner
Sicherheit durchschaut und beurteilt er die Verhältnisse fremder Höfe, wie die
Dinge daheim und die verwickeltsten Weltverhältnisse. In Petersburg kündigte sich
schon damals die Wendung an, die schließlich die russische Flotte unes Toulon, die
französische nach Kronstäbe führte. Nur Kaiser Alexander II. und einige Persön¬
lichkeiten seiner Familie hielten noch an der traditionellen Freundschaft für Preußen
fest, die übrige Hofgesellschaft ließ zwar die engen Beziehungen beider Höfe noch
gelten, übertrug sie aber nicht mehr auf die beiden Staaten, wofür Bismarck vor
allem die neue „nationale" Bildung dieser Kreise seit Nikolaus I. verantwortlich
macht, die sie der westeuropäischen Kultur entfremdet habe und ihnen doch, weil
sie großen Aufgaben nicht mehr gewachsen seien, in allen Verwaltungszweigen
deutsche Hilfsarbeiter unentbehrlich mache. Dabei herrschte infolge der Aufhebung
der Leibeigenschaft (3. März 1361) in dem halbruinierten Adel die tiefste Ver¬
stimmung gegen den Kaiser, die gebildeten Klassen neigten zum Liberalismus, sodaß
mau selbst mit Alexander Herzen (S. 111 steht verdrückt Herzen), dem Verbannten
Führer der radikalen Demokratie, verkehrte, und der alte Kanzler Graf Nesselrode
sich eigentlich nur noch eins die Armee verließ. Diese innern Angelegenheiten über-


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[0153] [Abbildung] Zur Bismarck-Litteratur Veto Raemmel von WWVmeer den zahlreichen litterarischen Erscheinungen, die sich seit Fürst Bismarcks Tode mit ihm und seinem Wirken beschäftigen, nimmt der sechste Band des Bismarck-Jahrbuchs von Horst Kohl (Leipzig, Göschen, 1899) eine der ersten Stellen ein Er enthält in seiner ersten Abteilung „Urkunden und Briefe," von diesen wieder ganze Gruppen und Reihen von Schreiben Bismarcks und bedeutender Zeit¬ genossen an ihn, die bei weitem ihrer Hauptmasse nach die Zeit vor 1871 betreffen. Das meiste Interesse erwecken darunter mehr oder weniger ausgedehnte und ge¬ schlossene Briefwechsel. Verhältnismäßig von geringer Bedeutung ist der zwischen Bismarck und Balen aus den Jahren 185ö bis 18S8, also aus Bismarcks Frankfurter Zeit, dem noch einige vereinzelte Stücke ans den Jahren 1364, 186K und 1873 beigefügt sind; sehr interessant und bedeutend dagegen ist die vom November 1861 bis in den Mui 1863 hierin fast lückenlose und ziemlich rege Korrespondenz zwischen Bismarck und Graf Bernstorff, denn sie zeigt uns Bismarck während seiner letzten Petersburger und seiner Pariser Thätigkeit und in den Anfängen seines Ministeriums, während Bernstorff anfangs sein Vor¬ gesetzter als Münster des Auswärtigen, seit September 1862 sein Untergebner als Botschafter in London war. Die Briefe, fast ganz politischen Inhalts, sind häufig vertrauliche Privatmitteilungen zur Ergänzung gleichzeitiger amtlicher Be¬ richte, die wohl auch manches sagen, was in diesen nicht stand. Wieder tritt dabei, selbst gegenüber einem keinesfalls unbedeutenden Manne, wie es Graf Bernstorff ohne Zweifel war, die ungeheure Überlegenheit Bismarcks hervor. Mit gleich souveräner Sicherheit durchschaut und beurteilt er die Verhältnisse fremder Höfe, wie die Dinge daheim und die verwickeltsten Weltverhältnisse. In Petersburg kündigte sich schon damals die Wendung an, die schließlich die russische Flotte unes Toulon, die französische nach Kronstäbe führte. Nur Kaiser Alexander II. und einige Persön¬ lichkeiten seiner Familie hielten noch an der traditionellen Freundschaft für Preußen fest, die übrige Hofgesellschaft ließ zwar die engen Beziehungen beider Höfe noch gelten, übertrug sie aber nicht mehr auf die beiden Staaten, wofür Bismarck vor allem die neue „nationale" Bildung dieser Kreise seit Nikolaus I. verantwortlich macht, die sie der westeuropäischen Kultur entfremdet habe und ihnen doch, weil sie großen Aufgaben nicht mehr gewachsen seien, in allen Verwaltungszweigen deutsche Hilfsarbeiter unentbehrlich mache. Dabei herrschte infolge der Aufhebung der Leibeigenschaft (3. März 1361) in dem halbruinierten Adel die tiefste Ver¬ stimmung gegen den Kaiser, die gebildeten Klassen neigten zum Liberalismus, sodaß mau selbst mit Alexander Herzen (S. 111 steht verdrückt Herzen), dem Verbannten Führer der radikalen Demokratie, verkehrte, und der alte Kanzler Graf Nesselrode sich eigentlich nur noch eins die Armee verließ. Diese innern Angelegenheiten über- Grenzboten II 1899 U>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/153>, abgerufen am 30.04.2024.