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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Eduard Bernstein und die deutsche ^ozialdemokratie

is die Christenheit inne wurde, daß sie die Worte der Apokalypse
falsch gedeutet und vergebens auf die leibliche Wiederkunft Christi
gewartet habe, da sank der Chiliasmus von der Würde einer
orthodoxen Meinung zu einer Ketzerei herab. Die deutsche Sozial-
demokratie scheint es umgekehrt halten zu wollen wie die alte
Kirche. Offen vor aller Augen liegt die Thatsache da, daß die Entwicklung
einen ganz andern Weg einschlägt, als den ihr Karl Marx vorzuschreiben sich
erkühnt hatte, und daß es mit dem tausendjährigen Reich der Proletarier¬
herrschaft so wenig etwas ist wie mit dem von Bebel fürs Jahr 1397 geweis-
sagten großen Kladderadatsch; eine sozialistische Autorität ersten Ranges legt
diese Thatsache in klarer, ruhiger, überzeugender Sprache dar, aber die Partei-
Päpste scheinen nicht die durch den Gang der Ereignisse als Phantasien ent¬
hüllten Sätze ihres Programms, sondern die Aussprache dessen, was wirklich
ist, für Ketzerei erklären zu wollen. Das ist nun Sache der Herren; Bernsteins
Buch aber'") würde als eine gute Orientierung über den augenblicklichen Stand
der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung auch dann Beachtung verdienen,
wenn er nicht ein anerkannter Vertreter und gründlicher Kenner des Marxis¬
mus wäre und dem verstorbnen Engels als intimster Freund nahe gestanden
hätte. Wir wollen deshalb die Hauptgedanken des kleinen Buches, dessen
Entstehungsgeschichte den Lesern aus den Zeitungen bekannt ist, kurz zu¬
sammenfassen.

Wir haben in diesen Heften oft wiederholt, daß unter allen Sätzen der
marxischen Theorie die wertlosesten und unhaltbarsten gerade die sind, die ihrer



") Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozial-
demokrntie von Ed. Bernstein. Stuttgart, I. H. W. Dietz Nachf,, 1899.
Grenzvoten II 1899 5.0


Eduard Bernstein und die deutsche ^ozialdemokratie

is die Christenheit inne wurde, daß sie die Worte der Apokalypse
falsch gedeutet und vergebens auf die leibliche Wiederkunft Christi
gewartet habe, da sank der Chiliasmus von der Würde einer
orthodoxen Meinung zu einer Ketzerei herab. Die deutsche Sozial-
demokratie scheint es umgekehrt halten zu wollen wie die alte
Kirche. Offen vor aller Augen liegt die Thatsache da, daß die Entwicklung
einen ganz andern Weg einschlägt, als den ihr Karl Marx vorzuschreiben sich
erkühnt hatte, und daß es mit dem tausendjährigen Reich der Proletarier¬
herrschaft so wenig etwas ist wie mit dem von Bebel fürs Jahr 1397 geweis-
sagten großen Kladderadatsch; eine sozialistische Autorität ersten Ranges legt
diese Thatsache in klarer, ruhiger, überzeugender Sprache dar, aber die Partei-
Päpste scheinen nicht die durch den Gang der Ereignisse als Phantasien ent¬
hüllten Sätze ihres Programms, sondern die Aussprache dessen, was wirklich
ist, für Ketzerei erklären zu wollen. Das ist nun Sache der Herren; Bernsteins
Buch aber'") würde als eine gute Orientierung über den augenblicklichen Stand
der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung auch dann Beachtung verdienen,
wenn er nicht ein anerkannter Vertreter und gründlicher Kenner des Marxis¬
mus wäre und dem verstorbnen Engels als intimster Freund nahe gestanden
hätte. Wir wollen deshalb die Hauptgedanken des kleinen Buches, dessen
Entstehungsgeschichte den Lesern aus den Zeitungen bekannt ist, kurz zu¬
sammenfassen.

Wir haben in diesen Heften oft wiederholt, daß unter allen Sätzen der
marxischen Theorie die wertlosesten und unhaltbarsten gerade die sind, die ihrer



") Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozial-
demokrntie von Ed. Bernstein. Stuttgart, I. H. W. Dietz Nachf,, 1899.
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[0401] [Abbildung] Eduard Bernstein und die deutsche ^ozialdemokratie is die Christenheit inne wurde, daß sie die Worte der Apokalypse falsch gedeutet und vergebens auf die leibliche Wiederkunft Christi gewartet habe, da sank der Chiliasmus von der Würde einer orthodoxen Meinung zu einer Ketzerei herab. Die deutsche Sozial- demokratie scheint es umgekehrt halten zu wollen wie die alte Kirche. Offen vor aller Augen liegt die Thatsache da, daß die Entwicklung einen ganz andern Weg einschlägt, als den ihr Karl Marx vorzuschreiben sich erkühnt hatte, und daß es mit dem tausendjährigen Reich der Proletarier¬ herrschaft so wenig etwas ist wie mit dem von Bebel fürs Jahr 1397 geweis- sagten großen Kladderadatsch; eine sozialistische Autorität ersten Ranges legt diese Thatsache in klarer, ruhiger, überzeugender Sprache dar, aber die Partei- Päpste scheinen nicht die durch den Gang der Ereignisse als Phantasien ent¬ hüllten Sätze ihres Programms, sondern die Aussprache dessen, was wirklich ist, für Ketzerei erklären zu wollen. Das ist nun Sache der Herren; Bernsteins Buch aber'") würde als eine gute Orientierung über den augenblicklichen Stand der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung auch dann Beachtung verdienen, wenn er nicht ein anerkannter Vertreter und gründlicher Kenner des Marxis¬ mus wäre und dem verstorbnen Engels als intimster Freund nahe gestanden hätte. Wir wollen deshalb die Hauptgedanken des kleinen Buches, dessen Entstehungsgeschichte den Lesern aus den Zeitungen bekannt ist, kurz zu¬ sammenfassen. Wir haben in diesen Heften oft wiederholt, daß unter allen Sätzen der marxischen Theorie die wertlosesten und unhaltbarsten gerade die sind, die ihrer ") Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozial- demokrntie von Ed. Bernstein. Stuttgart, I. H. W. Dietz Nachf,, 1899. Grenzvoten II 1899 5.0

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/401>, abgerufen am 30.04.2024.