Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Ungerechtigkeit unsrer Steuerverteilung

gewichtige Stimmen halten die Ausführung für möglich. Eine andre Revo¬
lution wäre die Abschaffung der kommunalen Haftpflicht für die Steuern; sie
liegt ganz in dem finanziellen Gebiet des Herrn Witte. Aber sie hängt zu
eng mit dem Geschick der Feldgemeinschaft zusammen, als daß sie von dieser
getrennt werden könnte, wenn einmal an diese große Reform gegangen werden
soll. Herrn Witte stehn gewaltige feindliche Mächte gegenüber. Eine Agrarreform
vielleicht für 80 Millionen Bauern ist an sich eine große Aufgabe; diese Reform
mit russischem Beamtenmaterial durchzuführen mag besonders schwer sein; ihre
Durchführung ohne die Gefahr ernster Ruhestörungen ist unwahrscheinlich;
eben so unwahrscheinlich ist die Vermeidung großer Ausgaben. Zuletzt hat
Herr Witte nicht nnr mit seinem Gegner, dem Minister des Innern. Goremykin,
sondern mit vielen andern zu rechnen, die trotz allem den russischen "Mir"
für ein Heiligtum halten. Und dennoch muß das Werk heute oder morgen
unternommen werden, wenn der Hunger dieses Jahres nicht zur Regel werden
soll, was er übrigens ja fast schon ist. Ob dieser Staatsmann alle Hinder¬
nisse überwinden wird? Jedenfalls verfolgt er das Ziel mit aller Kraft. Wie
die Friedenskonferenz wesentlich sein Werk ist, so erzwingt er bisher immer
eine friedliche russische Politik, wovon das jüngste Abkommen mit England
wieder ein Beispiel ist. Wenn es ihm gelingt, seine Finanzen über Wasser zu
halten, so darf man hoffen, daß seine Kräfte auch für die Durchführung der
Agrarreform ausreichen werden.




Die Ungerechtigkeit unsrer ^teuerverteilung

as Wort "Gerechtigkeit erhöhet ein Volk" hat auch in der Volks¬
wirtschaft Sinn und bewährt sich wohl auf keinem andern Ge¬
biete so rasch und gewaltig, als auf dem der Staatslastenver¬
teilung; denn von der gerechten Steuerbelastung hängt die Ge-
Wlsundheit des ganzen Staatsorganismus, sein Gedeihen und sein
Wachstum, also seine Erhöhung ab. Es ist ja längst bekannt, daß umgekehrt
durch eine unbillige und übermäßige Belastung einzelner Volksschichten die
Stärke und Widerstandskraft des Staatsganzen geschwächt wird. Nun mag
Wohl oft die politische Klugheit fordern, einzelne Gewerbe- und Interessenten¬
kreise durch Schutz- oder Kampfzölle zu bevorzugen und mittelbar hierdurch
die andern Staatsbürger mehr zu belasten. Falls dies nur mäßig geschieht
oder von keiner langen Dauer zu sein verspricht, wird man der Minderheit


Grenzboten II IN)!) 52
Die Ungerechtigkeit unsrer Steuerverteilung

gewichtige Stimmen halten die Ausführung für möglich. Eine andre Revo¬
lution wäre die Abschaffung der kommunalen Haftpflicht für die Steuern; sie
liegt ganz in dem finanziellen Gebiet des Herrn Witte. Aber sie hängt zu
eng mit dem Geschick der Feldgemeinschaft zusammen, als daß sie von dieser
getrennt werden könnte, wenn einmal an diese große Reform gegangen werden
soll. Herrn Witte stehn gewaltige feindliche Mächte gegenüber. Eine Agrarreform
vielleicht für 80 Millionen Bauern ist an sich eine große Aufgabe; diese Reform
mit russischem Beamtenmaterial durchzuführen mag besonders schwer sein; ihre
Durchführung ohne die Gefahr ernster Ruhestörungen ist unwahrscheinlich;
eben so unwahrscheinlich ist die Vermeidung großer Ausgaben. Zuletzt hat
Herr Witte nicht nnr mit seinem Gegner, dem Minister des Innern. Goremykin,
sondern mit vielen andern zu rechnen, die trotz allem den russischen „Mir"
für ein Heiligtum halten. Und dennoch muß das Werk heute oder morgen
unternommen werden, wenn der Hunger dieses Jahres nicht zur Regel werden
soll, was er übrigens ja fast schon ist. Ob dieser Staatsmann alle Hinder¬
nisse überwinden wird? Jedenfalls verfolgt er das Ziel mit aller Kraft. Wie
die Friedenskonferenz wesentlich sein Werk ist, so erzwingt er bisher immer
eine friedliche russische Politik, wovon das jüngste Abkommen mit England
wieder ein Beispiel ist. Wenn es ihm gelingt, seine Finanzen über Wasser zu
halten, so darf man hoffen, daß seine Kräfte auch für die Durchführung der
Agrarreform ausreichen werden.




Die Ungerechtigkeit unsrer ^teuerverteilung

as Wort „Gerechtigkeit erhöhet ein Volk" hat auch in der Volks¬
wirtschaft Sinn und bewährt sich wohl auf keinem andern Ge¬
biete so rasch und gewaltig, als auf dem der Staatslastenver¬
teilung; denn von der gerechten Steuerbelastung hängt die Ge-
Wlsundheit des ganzen Staatsorganismus, sein Gedeihen und sein
Wachstum, also seine Erhöhung ab. Es ist ja längst bekannt, daß umgekehrt
durch eine unbillige und übermäßige Belastung einzelner Volksschichten die
Stärke und Widerstandskraft des Staatsganzen geschwächt wird. Nun mag
Wohl oft die politische Klugheit fordern, einzelne Gewerbe- und Interessenten¬
kreise durch Schutz- oder Kampfzölle zu bevorzugen und mittelbar hierdurch
die andern Staatsbürger mehr zu belasten. Falls dies nur mäßig geschieht
oder von keiner langen Dauer zu sein verspricht, wird man der Minderheit


Grenzboten II IN)!) 52
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0417" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230849"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Ungerechtigkeit unsrer Steuerverteilung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1415" prev="#ID_1414"> gewichtige Stimmen halten die Ausführung für möglich. Eine andre Revo¬<lb/>
lution wäre die Abschaffung der kommunalen Haftpflicht für die Steuern; sie<lb/>
liegt ganz in dem finanziellen Gebiet des Herrn Witte. Aber sie hängt zu<lb/>
eng mit dem Geschick der Feldgemeinschaft zusammen, als daß sie von dieser<lb/>
getrennt werden könnte, wenn einmal an diese große Reform gegangen werden<lb/>
soll. Herrn Witte stehn gewaltige feindliche Mächte gegenüber. Eine Agrarreform<lb/>
vielleicht für 80 Millionen Bauern ist an sich eine große Aufgabe; diese Reform<lb/>
mit russischem Beamtenmaterial durchzuführen mag besonders schwer sein; ihre<lb/>
Durchführung ohne die Gefahr ernster Ruhestörungen ist unwahrscheinlich;<lb/>
eben so unwahrscheinlich ist die Vermeidung großer Ausgaben. Zuletzt hat<lb/>
Herr Witte nicht nnr mit seinem Gegner, dem Minister des Innern. Goremykin,<lb/>
sondern mit vielen andern zu rechnen, die trotz allem den russischen &#x201E;Mir"<lb/>
für ein Heiligtum halten. Und dennoch muß das Werk heute oder morgen<lb/>
unternommen werden, wenn der Hunger dieses Jahres nicht zur Regel werden<lb/>
soll, was er übrigens ja fast schon ist. Ob dieser Staatsmann alle Hinder¬<lb/>
nisse überwinden wird? Jedenfalls verfolgt er das Ziel mit aller Kraft. Wie<lb/>
die Friedenskonferenz wesentlich sein Werk ist, so erzwingt er bisher immer<lb/>
eine friedliche russische Politik, wovon das jüngste Abkommen mit England<lb/>
wieder ein Beispiel ist. Wenn es ihm gelingt, seine Finanzen über Wasser zu<lb/>
halten, so darf man hoffen, daß seine Kräfte auch für die Durchführung der<lb/>
Agrarreform ausreichen werden.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Ungerechtigkeit unsrer ^teuerverteilung</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1416" next="#ID_1417"> as Wort &#x201E;Gerechtigkeit erhöhet ein Volk" hat auch in der Volks¬<lb/>
wirtschaft Sinn und bewährt sich wohl auf keinem andern Ge¬<lb/>
biete so rasch und gewaltig, als auf dem der Staatslastenver¬<lb/>
teilung; denn von der gerechten Steuerbelastung hängt die Ge-<lb/>
Wlsundheit des ganzen Staatsorganismus, sein Gedeihen und sein<lb/>
Wachstum, also seine Erhöhung ab. Es ist ja längst bekannt, daß umgekehrt<lb/>
durch eine unbillige und übermäßige Belastung einzelner Volksschichten die<lb/>
Stärke und Widerstandskraft des Staatsganzen geschwächt wird. Nun mag<lb/>
Wohl oft die politische Klugheit fordern, einzelne Gewerbe- und Interessenten¬<lb/>
kreise durch Schutz- oder Kampfzölle zu bevorzugen und mittelbar hierdurch<lb/>
die andern Staatsbürger mehr zu belasten. Falls dies nur mäßig geschieht<lb/>
oder von keiner langen Dauer zu sein verspricht, wird man der Minderheit</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II IN)!) 52</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0417] Die Ungerechtigkeit unsrer Steuerverteilung gewichtige Stimmen halten die Ausführung für möglich. Eine andre Revo¬ lution wäre die Abschaffung der kommunalen Haftpflicht für die Steuern; sie liegt ganz in dem finanziellen Gebiet des Herrn Witte. Aber sie hängt zu eng mit dem Geschick der Feldgemeinschaft zusammen, als daß sie von dieser getrennt werden könnte, wenn einmal an diese große Reform gegangen werden soll. Herrn Witte stehn gewaltige feindliche Mächte gegenüber. Eine Agrarreform vielleicht für 80 Millionen Bauern ist an sich eine große Aufgabe; diese Reform mit russischem Beamtenmaterial durchzuführen mag besonders schwer sein; ihre Durchführung ohne die Gefahr ernster Ruhestörungen ist unwahrscheinlich; eben so unwahrscheinlich ist die Vermeidung großer Ausgaben. Zuletzt hat Herr Witte nicht nnr mit seinem Gegner, dem Minister des Innern. Goremykin, sondern mit vielen andern zu rechnen, die trotz allem den russischen „Mir" für ein Heiligtum halten. Und dennoch muß das Werk heute oder morgen unternommen werden, wenn der Hunger dieses Jahres nicht zur Regel werden soll, was er übrigens ja fast schon ist. Ob dieser Staatsmann alle Hinder¬ nisse überwinden wird? Jedenfalls verfolgt er das Ziel mit aller Kraft. Wie die Friedenskonferenz wesentlich sein Werk ist, so erzwingt er bisher immer eine friedliche russische Politik, wovon das jüngste Abkommen mit England wieder ein Beispiel ist. Wenn es ihm gelingt, seine Finanzen über Wasser zu halten, so darf man hoffen, daß seine Kräfte auch für die Durchführung der Agrarreform ausreichen werden. Die Ungerechtigkeit unsrer ^teuerverteilung as Wort „Gerechtigkeit erhöhet ein Volk" hat auch in der Volks¬ wirtschaft Sinn und bewährt sich wohl auf keinem andern Ge¬ biete so rasch und gewaltig, als auf dem der Staatslastenver¬ teilung; denn von der gerechten Steuerbelastung hängt die Ge- Wlsundheit des ganzen Staatsorganismus, sein Gedeihen und sein Wachstum, also seine Erhöhung ab. Es ist ja längst bekannt, daß umgekehrt durch eine unbillige und übermäßige Belastung einzelner Volksschichten die Stärke und Widerstandskraft des Staatsganzen geschwächt wird. Nun mag Wohl oft die politische Klugheit fordern, einzelne Gewerbe- und Interessenten¬ kreise durch Schutz- oder Kampfzölle zu bevorzugen und mittelbar hierdurch die andern Staatsbürger mehr zu belasten. Falls dies nur mäßig geschieht oder von keiner langen Dauer zu sein verspricht, wird man der Minderheit Grenzboten II IN)!) 52

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/417
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/417>, abgerufen am 30.04.2024.