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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Herr Witte als Reformer Rußlands

Viele Fälle gelten, indessen zeigt der eingetretne Ruin vieler Wirte, daß die
Anleitungen diese Grenze sehr oft nicht eingehalten haben. Denn als eine
ruinierte Wirtschaft muß man doch wohl die ansehen, die mit unzureichenden
oder gar keinem Arbeitsvieh mehr ausgestattet ist. Und schon im Jahre 1882
zählte Sokolowski 1100000 Bauernhöfe, die keinerlei Gespanne besaßen.

Seit der Aufhebung der Leibeigenschaft hat auch der Bauer begonnen,
von der reinen Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft überzugehn; schon daß er
Zinsen und Ablösungskapital zahlen muß, treibt ihn dazu. Die nächste Folge
davon ist, daß er oft Geld borgen muß, zu 20 und 50 und 100 Prozent und
noch teurer, und daß er der "Faust," dem Dorfwucherer verfällt, der nun zum
ersten Unterhöhler der Feldgemeinschaft und somit zum unwillkürlichen Wohl¬
thäter des Landes wird. Die zweite Folge ist, daß der Bauer, indem er all¬
mählich seine Ablösungsschuld tilgt, auf den Gedanken kommt, daß er damit
sein Land für sich zu eigen erwirbt und sich Anleitungen oder Neuverlosungeu,
die ihn des Landes berauben würden, widersetzt. Er sucht nun auch seine
Schuld durch stärkere Kapitalzahlungen vor der allgemein ihm gesetzten Frist
zu tilgen in der Hoffnung, dann gegen jene Gefahren geschützt zu sein und
-- wie es das Gesetz von 1861 bestimmte -- mit seinein Lande ans der
Dorfflurgemeinschaft ausscheiden zu können. Da aber erscheint am 14. De¬
zember 1893 ein Gesetz, wonach die vorterminliche Ablösung und die Aus¬
scheidung aus der Flurgemeinschaft nur mit Genehmigung der Gemeinde er¬
folgen darf. In der Gemeinde ist die Majorität der Habenichtse natürlich
jedesmal dagegen, daß ein Reicherer ausscheidet mit seinem verbesserten Lande,
wodurch dieses der Anleitung entgeht, auf die der Arme hoffte. Also wäre
es nun wieder Thorheit, sein Land zu verbessern, es bleibt bei der alten Ranb-
wirtschaft, und das urslawische Institut ist wieder gerettet! Und das im Jahre
1893, das bei einer Regierung, die seit langer Zeit Berge von statistischen
Akten, Bibliotheken der schönsten nationalökonomischen Werke aufgehäuft hat!
Aber das ist die natürliche Frucht einer üppig wuchernden Büreaukratie.

"Die Zwergwirtschaft, sagt der Verfasser unsers Werkes, die mit der
Feldgemeinschaft verbunden ist, die technische Zurückgebliebenheit, die eine Folge
der russischen Unkultur ist, verurteilen notwendig den russischen Bauernstand
zu periodischen Hungersnöten. ... Die einzige Rettung aus diesem Mißstände
ist der Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise, die Aufhebung der Feld¬
gemeinschaft und die Befreiung des Bauern von der Gebundenheit, in der er
gegenwärtig beharrt."

Es ist freilich wahr: die Abschaffung der Flurgemeinschaft, die Wieder-
aufrichtung des privaten bäuerlichen Grundeigentums bedeutet eine Agrar¬
revolution. Aber obwohl Kenner wie Keußler sie für unausführbar, wenig¬
stens in gewissen rationellen Formen unausführbar gehalten haben, so giebt
es doch keinen andern Ausweg aus dem gegenwärtigen Elend, und viele und


Herr Witte als Reformer Rußlands

Viele Fälle gelten, indessen zeigt der eingetretne Ruin vieler Wirte, daß die
Anleitungen diese Grenze sehr oft nicht eingehalten haben. Denn als eine
ruinierte Wirtschaft muß man doch wohl die ansehen, die mit unzureichenden
oder gar keinem Arbeitsvieh mehr ausgestattet ist. Und schon im Jahre 1882
zählte Sokolowski 1100000 Bauernhöfe, die keinerlei Gespanne besaßen.

Seit der Aufhebung der Leibeigenschaft hat auch der Bauer begonnen,
von der reinen Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft überzugehn; schon daß er
Zinsen und Ablösungskapital zahlen muß, treibt ihn dazu. Die nächste Folge
davon ist, daß er oft Geld borgen muß, zu 20 und 50 und 100 Prozent und
noch teurer, und daß er der „Faust," dem Dorfwucherer verfällt, der nun zum
ersten Unterhöhler der Feldgemeinschaft und somit zum unwillkürlichen Wohl¬
thäter des Landes wird. Die zweite Folge ist, daß der Bauer, indem er all¬
mählich seine Ablösungsschuld tilgt, auf den Gedanken kommt, daß er damit
sein Land für sich zu eigen erwirbt und sich Anleitungen oder Neuverlosungeu,
die ihn des Landes berauben würden, widersetzt. Er sucht nun auch seine
Schuld durch stärkere Kapitalzahlungen vor der allgemein ihm gesetzten Frist
zu tilgen in der Hoffnung, dann gegen jene Gefahren geschützt zu sein und
— wie es das Gesetz von 1861 bestimmte — mit seinein Lande ans der
Dorfflurgemeinschaft ausscheiden zu können. Da aber erscheint am 14. De¬
zember 1893 ein Gesetz, wonach die vorterminliche Ablösung und die Aus¬
scheidung aus der Flurgemeinschaft nur mit Genehmigung der Gemeinde er¬
folgen darf. In der Gemeinde ist die Majorität der Habenichtse natürlich
jedesmal dagegen, daß ein Reicherer ausscheidet mit seinem verbesserten Lande,
wodurch dieses der Anleitung entgeht, auf die der Arme hoffte. Also wäre
es nun wieder Thorheit, sein Land zu verbessern, es bleibt bei der alten Ranb-
wirtschaft, und das urslawische Institut ist wieder gerettet! Und das im Jahre
1893, das bei einer Regierung, die seit langer Zeit Berge von statistischen
Akten, Bibliotheken der schönsten nationalökonomischen Werke aufgehäuft hat!
Aber das ist die natürliche Frucht einer üppig wuchernden Büreaukratie.

„Die Zwergwirtschaft, sagt der Verfasser unsers Werkes, die mit der
Feldgemeinschaft verbunden ist, die technische Zurückgebliebenheit, die eine Folge
der russischen Unkultur ist, verurteilen notwendig den russischen Bauernstand
zu periodischen Hungersnöten. ... Die einzige Rettung aus diesem Mißstände
ist der Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise, die Aufhebung der Feld¬
gemeinschaft und die Befreiung des Bauern von der Gebundenheit, in der er
gegenwärtig beharrt."

Es ist freilich wahr: die Abschaffung der Flurgemeinschaft, die Wieder-
aufrichtung des privaten bäuerlichen Grundeigentums bedeutet eine Agrar¬
revolution. Aber obwohl Kenner wie Keußler sie für unausführbar, wenig¬
stens in gewissen rationellen Formen unausführbar gehalten haben, so giebt
es doch keinen andern Ausweg aus dem gegenwärtigen Elend, und viele und


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[0416] Herr Witte als Reformer Rußlands Viele Fälle gelten, indessen zeigt der eingetretne Ruin vieler Wirte, daß die Anleitungen diese Grenze sehr oft nicht eingehalten haben. Denn als eine ruinierte Wirtschaft muß man doch wohl die ansehen, die mit unzureichenden oder gar keinem Arbeitsvieh mehr ausgestattet ist. Und schon im Jahre 1882 zählte Sokolowski 1100000 Bauernhöfe, die keinerlei Gespanne besaßen. Seit der Aufhebung der Leibeigenschaft hat auch der Bauer begonnen, von der reinen Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft überzugehn; schon daß er Zinsen und Ablösungskapital zahlen muß, treibt ihn dazu. Die nächste Folge davon ist, daß er oft Geld borgen muß, zu 20 und 50 und 100 Prozent und noch teurer, und daß er der „Faust," dem Dorfwucherer verfällt, der nun zum ersten Unterhöhler der Feldgemeinschaft und somit zum unwillkürlichen Wohl¬ thäter des Landes wird. Die zweite Folge ist, daß der Bauer, indem er all¬ mählich seine Ablösungsschuld tilgt, auf den Gedanken kommt, daß er damit sein Land für sich zu eigen erwirbt und sich Anleitungen oder Neuverlosungeu, die ihn des Landes berauben würden, widersetzt. Er sucht nun auch seine Schuld durch stärkere Kapitalzahlungen vor der allgemein ihm gesetzten Frist zu tilgen in der Hoffnung, dann gegen jene Gefahren geschützt zu sein und — wie es das Gesetz von 1861 bestimmte — mit seinein Lande ans der Dorfflurgemeinschaft ausscheiden zu können. Da aber erscheint am 14. De¬ zember 1893 ein Gesetz, wonach die vorterminliche Ablösung und die Aus¬ scheidung aus der Flurgemeinschaft nur mit Genehmigung der Gemeinde er¬ folgen darf. In der Gemeinde ist die Majorität der Habenichtse natürlich jedesmal dagegen, daß ein Reicherer ausscheidet mit seinem verbesserten Lande, wodurch dieses der Anleitung entgeht, auf die der Arme hoffte. Also wäre es nun wieder Thorheit, sein Land zu verbessern, es bleibt bei der alten Ranb- wirtschaft, und das urslawische Institut ist wieder gerettet! Und das im Jahre 1893, das bei einer Regierung, die seit langer Zeit Berge von statistischen Akten, Bibliotheken der schönsten nationalökonomischen Werke aufgehäuft hat! Aber das ist die natürliche Frucht einer üppig wuchernden Büreaukratie. „Die Zwergwirtschaft, sagt der Verfasser unsers Werkes, die mit der Feldgemeinschaft verbunden ist, die technische Zurückgebliebenheit, die eine Folge der russischen Unkultur ist, verurteilen notwendig den russischen Bauernstand zu periodischen Hungersnöten. ... Die einzige Rettung aus diesem Mißstände ist der Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise, die Aufhebung der Feld¬ gemeinschaft und die Befreiung des Bauern von der Gebundenheit, in der er gegenwärtig beharrt." Es ist freilich wahr: die Abschaffung der Flurgemeinschaft, die Wieder- aufrichtung des privaten bäuerlichen Grundeigentums bedeutet eine Agrar¬ revolution. Aber obwohl Kenner wie Keußler sie für unausführbar, wenig¬ stens in gewissen rationellen Formen unausführbar gehalten haben, so giebt es doch keinen andern Ausweg aus dem gegenwärtigen Elend, und viele und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/416>, abgerufen am 17.05.2024.