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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Über griechische und römische versluchungstafeln

größerer, freierer Welt verlangende Talente auch in Zukunft so tapfer und so
erfolgreich entziehn, wie dies in der Vergangenheit geschehn ist. Und so wird
denn auch für alle Folge der größer empfindenden, schärfer schauenden, die
echte Entwicklung fördernden nicht revolutionären Kritik ihre Hauptaufgabe
höchstens erschwert, nicht verkümmert werden können. Dem ernsten Freunde
ernster Litteratur bleibt als Resultat der Betrachtung der treibenden Mächte
wie der bleibenden Schöpfungen unsrer Dichtung, daß es im Laufe eines
Jahrhunderts dreimal notwendig gewesen ist, einer geschichtsblindeu und
parteiischen Einseitigkeit, einer revolutionären Leidenschaft, die nur den Tag
und die Stunde, ja in dem Tag und der Stunde nnr sich selbst und ihr
eigenmächtig gesetztes Gegenbild kannte, die Zustimmung zu weigern und die
Alleinherrschaft zu bestreiten.




Über griechische und römische Verfluchungstafeln
Blümner i volln

o alt wie das Menschengeschlecht und wie die menschlichen Leiden¬
schaften, so alt ist der Wunsch, daß es dem Freunde gut, dem
Feinde schlecht gehn möge. Und da auch der Aberglaube so alt
ist wie das Menschengeschlecht, so ist ebenso alt auch das Be¬
strebe", durch geheim wirkende Kräfte, durch Zauberkünste und
Beschwörungen den Feind entweder zu töten oder ihm Schaden zuzufügen oder
zum mindesten ihn der Macht zu berauben, selbst zu schaden. Solchen Zauber
kannte das Altertum seit früher Zeit, und mannigfaltiger Art waren die Mittel,
deren man sich dafür bediente; denn der Grieche und der Römer waren stark
im Haß gegen den Feind, was ihm seine Religion nicht verbot. Aber auch
das Christentum, obgleich es unter seinen Vorschriften die Liebe zum Feinde
hat, kennt ähnliches; denn keine einzige Lehre der neuen Religion war so schwer
zu befolgen und wird bis auf den heutigen Tag so oft übertreten, wie die
ideale Forderung: "Liebet eure Feinde!" Wie verbreitet im Mittelalter und
noch lange darüber hinaus der Glaube war, daß Menschen durch Zauber ihren
Mitmenschen Schaden zuzufügen vermöchten, lehren uns die Hexenprozesse;
noch heute ist dieser Glaube in minder zivilisierten Landen, wie z. B. an der
untern Donau oder im innern Rußland, durchaus lebendig, und daß selbst auf
deutschem Gebiete sehr vielfach noch die Landbevölkerung ans "Behexen" glaubt,
ist bekannt genug.

Freilich ist es darin anders geworden gegen früher, insofern solches Böse
bloß andern Menschen zugetraut wird, aber in der Regel die solchem Aber-


Über griechische und römische versluchungstafeln

größerer, freierer Welt verlangende Talente auch in Zukunft so tapfer und so
erfolgreich entziehn, wie dies in der Vergangenheit geschehn ist. Und so wird
denn auch für alle Folge der größer empfindenden, schärfer schauenden, die
echte Entwicklung fördernden nicht revolutionären Kritik ihre Hauptaufgabe
höchstens erschwert, nicht verkümmert werden können. Dem ernsten Freunde
ernster Litteratur bleibt als Resultat der Betrachtung der treibenden Mächte
wie der bleibenden Schöpfungen unsrer Dichtung, daß es im Laufe eines
Jahrhunderts dreimal notwendig gewesen ist, einer geschichtsblindeu und
parteiischen Einseitigkeit, einer revolutionären Leidenschaft, die nur den Tag
und die Stunde, ja in dem Tag und der Stunde nnr sich selbst und ihr
eigenmächtig gesetztes Gegenbild kannte, die Zustimmung zu weigern und die
Alleinherrschaft zu bestreiten.




Über griechische und römische Verfluchungstafeln
Blümner i volln

o alt wie das Menschengeschlecht und wie die menschlichen Leiden¬
schaften, so alt ist der Wunsch, daß es dem Freunde gut, dem
Feinde schlecht gehn möge. Und da auch der Aberglaube so alt
ist wie das Menschengeschlecht, so ist ebenso alt auch das Be¬
strebe», durch geheim wirkende Kräfte, durch Zauberkünste und
Beschwörungen den Feind entweder zu töten oder ihm Schaden zuzufügen oder
zum mindesten ihn der Macht zu berauben, selbst zu schaden. Solchen Zauber
kannte das Altertum seit früher Zeit, und mannigfaltiger Art waren die Mittel,
deren man sich dafür bediente; denn der Grieche und der Römer waren stark
im Haß gegen den Feind, was ihm seine Religion nicht verbot. Aber auch
das Christentum, obgleich es unter seinen Vorschriften die Liebe zum Feinde
hat, kennt ähnliches; denn keine einzige Lehre der neuen Religion war so schwer
zu befolgen und wird bis auf den heutigen Tag so oft übertreten, wie die
ideale Forderung: „Liebet eure Feinde!" Wie verbreitet im Mittelalter und
noch lange darüber hinaus der Glaube war, daß Menschen durch Zauber ihren
Mitmenschen Schaden zuzufügen vermöchten, lehren uns die Hexenprozesse;
noch heute ist dieser Glaube in minder zivilisierten Landen, wie z. B. an der
untern Donau oder im innern Rußland, durchaus lebendig, und daß selbst auf
deutschem Gebiete sehr vielfach noch die Landbevölkerung ans „Behexen" glaubt,
ist bekannt genug.

Freilich ist es darin anders geworden gegen früher, insofern solches Böse
bloß andern Menschen zugetraut wird, aber in der Regel die solchem Aber-


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[0487] Über griechische und römische versluchungstafeln größerer, freierer Welt verlangende Talente auch in Zukunft so tapfer und so erfolgreich entziehn, wie dies in der Vergangenheit geschehn ist. Und so wird denn auch für alle Folge der größer empfindenden, schärfer schauenden, die echte Entwicklung fördernden nicht revolutionären Kritik ihre Hauptaufgabe höchstens erschwert, nicht verkümmert werden können. Dem ernsten Freunde ernster Litteratur bleibt als Resultat der Betrachtung der treibenden Mächte wie der bleibenden Schöpfungen unsrer Dichtung, daß es im Laufe eines Jahrhunderts dreimal notwendig gewesen ist, einer geschichtsblindeu und parteiischen Einseitigkeit, einer revolutionären Leidenschaft, die nur den Tag und die Stunde, ja in dem Tag und der Stunde nnr sich selbst und ihr eigenmächtig gesetztes Gegenbild kannte, die Zustimmung zu weigern und die Alleinherrschaft zu bestreiten. Über griechische und römische Verfluchungstafeln Blümner i volln o alt wie das Menschengeschlecht und wie die menschlichen Leiden¬ schaften, so alt ist der Wunsch, daß es dem Freunde gut, dem Feinde schlecht gehn möge. Und da auch der Aberglaube so alt ist wie das Menschengeschlecht, so ist ebenso alt auch das Be¬ strebe», durch geheim wirkende Kräfte, durch Zauberkünste und Beschwörungen den Feind entweder zu töten oder ihm Schaden zuzufügen oder zum mindesten ihn der Macht zu berauben, selbst zu schaden. Solchen Zauber kannte das Altertum seit früher Zeit, und mannigfaltiger Art waren die Mittel, deren man sich dafür bediente; denn der Grieche und der Römer waren stark im Haß gegen den Feind, was ihm seine Religion nicht verbot. Aber auch das Christentum, obgleich es unter seinen Vorschriften die Liebe zum Feinde hat, kennt ähnliches; denn keine einzige Lehre der neuen Religion war so schwer zu befolgen und wird bis auf den heutigen Tag so oft übertreten, wie die ideale Forderung: „Liebet eure Feinde!" Wie verbreitet im Mittelalter und noch lange darüber hinaus der Glaube war, daß Menschen durch Zauber ihren Mitmenschen Schaden zuzufügen vermöchten, lehren uns die Hexenprozesse; noch heute ist dieser Glaube in minder zivilisierten Landen, wie z. B. an der untern Donau oder im innern Rußland, durchaus lebendig, und daß selbst auf deutschem Gebiete sehr vielfach noch die Landbevölkerung ans „Behexen" glaubt, ist bekannt genug. Freilich ist es darin anders geworden gegen früher, insofern solches Böse bloß andern Menschen zugetraut wird, aber in der Regel die solchem Aber-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/487>, abgerufen am 30.04.2024.