Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

der Klassik vorgeführt wurde. Selbst seine Lobredner merkten nicht oder nur
ganz vereinzelt, welch eine selbständige Natur in den Werken immer eigen-
tümlichem Ausdruck fand, welch eine mächtige, wenn auch im Ausdruck oft
spröde künstlerische und geistige Entwicklung hinter den angeblich "akademischen"
Schöpfungen des Dichters vor sich ging. Nun freilich giebt es Grillparzer-
gesellschaften, ein Grillparzerjahrbuch und eine ganze Grillparzerlitteratur!

Unter Umständen beruft sich die der jüngste" Revolution entstammende
und von ihr getriebne Kritik ans unser Beispiel und macht geltend, daß sich
alles, was der romantischen und der jungdcutsch-politischen Beurteilung dunkel
geblieben sei, dem modernen Urteil leicht erhellt habe. Dies ist denn auch
insoweit wahr, als sich Vorkämpfer Ibsens Verdienste um die rückschauende
Würdigung der realistischen Seite von Grillparzers Kunst erworben und die
Persönlichkeit des Dichters zuerst voll erkannt haben. Nichtsdestoweniger bleibt
es gewiß, daß die jüngste, rein das Parteiprogramm vertretende, in allen
Fibern revolutionäre Littcraturanschauuug dieselbe Unfähigkeit zur Erfassung
einer wirklich bedeutenden eutwicklungsreicheu Dichternatur, die unter uns lebte,
erweisen würde, der die romantisierende und liberalisierende Kritik nicht minder
als die akademische, pseudoklassische verfallen ist. Denn keine einigermaßen be¬
deutende poetische und künstlerische Entwicklung vollzieht sich im Rahmen
einer revolutionären Bewegung, selbst wo diese Bewegung zunächst eine" Auf¬
schwung bedeutet hätte. Und so wird immer wieder die Anschauung und die
Empfänglichkeit zu Recht kommen, die Gehalt und Wert der poetischen Erschei¬
nungen nicht an ihrer Übereinstimmung mit einer gewissen Zahl von neuen
stilistischen Forderungen, sondern an Welt und Leben mißt und darauf beharrt,
daß Welt und Lebe" größer, mächtiger und vielartiger siud, als die Begriffe
und Vorurteile irgend welcher Schule, Klique oder Richtung. Daß diese ob¬
jektive, zuletzt allein fruchtbare und siegreiche Anschauung den poetischen
Leistungen unsrer Tage gegenüber in ganz besondrer Weise erschwert ist, liegt
in dein wunderlichen Bunde, den die neuste Litteratur und Kunst mit der
ohr- und seelcnbetäubcnden Reklame eingegangen ist. Während den Schaffenden
alles daran liegen müßte, als Individualitäten, als selbständige Naturen zu
gelten, während, wie wir gesehen haben, das ursprüngliche Losungswort jeder
litterarischen Revolution Selbständigkeit, freie Entfaltung der poetischen Natur
war, beeifert sich die Reklame, die nichts andres kennt als Sensation und
Sensation nur innerhalb der Mode hofft, von jeder Schöpfung des Tages
zu versichern, daß sie nicht einen Schatten von Selbständigkeit aufweise, daß
sie ganz und gar modern sei, das heißt ganz und gar naturlos, modisch kon¬
ventionell, gemacht, nicht gezeugt. Es ist zu fürchten, daß die Reklame in nur
zu vielen Fällen vollkommen recht hat. Aber es giebt unzweifelhaft auch
unter den Dichtern der Gegenwart etliche, die das Knie nicht vor Baal ge¬
beugt haben. Jeder revolutionären Enge werden sich kräftige und nach


Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

der Klassik vorgeführt wurde. Selbst seine Lobredner merkten nicht oder nur
ganz vereinzelt, welch eine selbständige Natur in den Werken immer eigen-
tümlichem Ausdruck fand, welch eine mächtige, wenn auch im Ausdruck oft
spröde künstlerische und geistige Entwicklung hinter den angeblich „akademischen"
Schöpfungen des Dichters vor sich ging. Nun freilich giebt es Grillparzer-
gesellschaften, ein Grillparzerjahrbuch und eine ganze Grillparzerlitteratur!

Unter Umständen beruft sich die der jüngste» Revolution entstammende
und von ihr getriebne Kritik ans unser Beispiel und macht geltend, daß sich
alles, was der romantischen und der jungdcutsch-politischen Beurteilung dunkel
geblieben sei, dem modernen Urteil leicht erhellt habe. Dies ist denn auch
insoweit wahr, als sich Vorkämpfer Ibsens Verdienste um die rückschauende
Würdigung der realistischen Seite von Grillparzers Kunst erworben und die
Persönlichkeit des Dichters zuerst voll erkannt haben. Nichtsdestoweniger bleibt
es gewiß, daß die jüngste, rein das Parteiprogramm vertretende, in allen
Fibern revolutionäre Littcraturanschauuug dieselbe Unfähigkeit zur Erfassung
einer wirklich bedeutenden eutwicklungsreicheu Dichternatur, die unter uns lebte,
erweisen würde, der die romantisierende und liberalisierende Kritik nicht minder
als die akademische, pseudoklassische verfallen ist. Denn keine einigermaßen be¬
deutende poetische und künstlerische Entwicklung vollzieht sich im Rahmen
einer revolutionären Bewegung, selbst wo diese Bewegung zunächst eine» Auf¬
schwung bedeutet hätte. Und so wird immer wieder die Anschauung und die
Empfänglichkeit zu Recht kommen, die Gehalt und Wert der poetischen Erschei¬
nungen nicht an ihrer Übereinstimmung mit einer gewissen Zahl von neuen
stilistischen Forderungen, sondern an Welt und Leben mißt und darauf beharrt,
daß Welt und Lebe» größer, mächtiger und vielartiger siud, als die Begriffe
und Vorurteile irgend welcher Schule, Klique oder Richtung. Daß diese ob¬
jektive, zuletzt allein fruchtbare und siegreiche Anschauung den poetischen
Leistungen unsrer Tage gegenüber in ganz besondrer Weise erschwert ist, liegt
in dein wunderlichen Bunde, den die neuste Litteratur und Kunst mit der
ohr- und seelcnbetäubcnden Reklame eingegangen ist. Während den Schaffenden
alles daran liegen müßte, als Individualitäten, als selbständige Naturen zu
gelten, während, wie wir gesehen haben, das ursprüngliche Losungswort jeder
litterarischen Revolution Selbständigkeit, freie Entfaltung der poetischen Natur
war, beeifert sich die Reklame, die nichts andres kennt als Sensation und
Sensation nur innerhalb der Mode hofft, von jeder Schöpfung des Tages
zu versichern, daß sie nicht einen Schatten von Selbständigkeit aufweise, daß
sie ganz und gar modern sei, das heißt ganz und gar naturlos, modisch kon¬
ventionell, gemacht, nicht gezeugt. Es ist zu fürchten, daß die Reklame in nur
zu vielen Fällen vollkommen recht hat. Aber es giebt unzweifelhaft auch
unter den Dichtern der Gegenwart etliche, die das Knie nicht vor Baal ge¬
beugt haben. Jeder revolutionären Enge werden sich kräftige und nach


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0486" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230918"/>
          <fw type="header" place="top"> Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1634" prev="#ID_1633"> der Klassik vorgeführt wurde. Selbst seine Lobredner merkten nicht oder nur<lb/>
ganz vereinzelt, welch eine selbständige Natur in den Werken immer eigen-<lb/>
tümlichem Ausdruck fand, welch eine mächtige, wenn auch im Ausdruck oft<lb/>
spröde künstlerische und geistige Entwicklung hinter den angeblich &#x201E;akademischen"<lb/>
Schöpfungen des Dichters vor sich ging. Nun freilich giebt es Grillparzer-<lb/>
gesellschaften, ein Grillparzerjahrbuch und eine ganze Grillparzerlitteratur!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1635" next="#ID_1636"> Unter Umständen beruft sich die der jüngste» Revolution entstammende<lb/>
und von ihr getriebne Kritik ans unser Beispiel und macht geltend, daß sich<lb/>
alles, was der romantischen und der jungdcutsch-politischen Beurteilung dunkel<lb/>
geblieben sei, dem modernen Urteil leicht erhellt habe. Dies ist denn auch<lb/>
insoweit wahr, als sich Vorkämpfer Ibsens Verdienste um die rückschauende<lb/>
Würdigung der realistischen Seite von Grillparzers Kunst erworben und die<lb/>
Persönlichkeit des Dichters zuerst voll erkannt haben. Nichtsdestoweniger bleibt<lb/>
es gewiß, daß die jüngste, rein das Parteiprogramm vertretende, in allen<lb/>
Fibern revolutionäre Littcraturanschauuug dieselbe Unfähigkeit zur Erfassung<lb/>
einer wirklich bedeutenden eutwicklungsreicheu Dichternatur, die unter uns lebte,<lb/>
erweisen würde, der die romantisierende und liberalisierende Kritik nicht minder<lb/>
als die akademische, pseudoklassische verfallen ist. Denn keine einigermaßen be¬<lb/>
deutende poetische und künstlerische Entwicklung vollzieht sich im Rahmen<lb/>
einer revolutionären Bewegung, selbst wo diese Bewegung zunächst eine» Auf¬<lb/>
schwung bedeutet hätte. Und so wird immer wieder die Anschauung und die<lb/>
Empfänglichkeit zu Recht kommen, die Gehalt und Wert der poetischen Erschei¬<lb/>
nungen nicht an ihrer Übereinstimmung mit einer gewissen Zahl von neuen<lb/>
stilistischen Forderungen, sondern an Welt und Leben mißt und darauf beharrt,<lb/>
daß Welt und Lebe» größer, mächtiger und vielartiger siud, als die Begriffe<lb/>
und Vorurteile irgend welcher Schule, Klique oder Richtung. Daß diese ob¬<lb/>
jektive, zuletzt allein fruchtbare und siegreiche Anschauung den poetischen<lb/>
Leistungen unsrer Tage gegenüber in ganz besondrer Weise erschwert ist, liegt<lb/>
in dein wunderlichen Bunde, den die neuste Litteratur und Kunst mit der<lb/>
ohr- und seelcnbetäubcnden Reklame eingegangen ist. Während den Schaffenden<lb/>
alles daran liegen müßte, als Individualitäten, als selbständige Naturen zu<lb/>
gelten, während, wie wir gesehen haben, das ursprüngliche Losungswort jeder<lb/>
litterarischen Revolution Selbständigkeit, freie Entfaltung der poetischen Natur<lb/>
war, beeifert sich die Reklame, die nichts andres kennt als Sensation und<lb/>
Sensation nur innerhalb der Mode hofft, von jeder Schöpfung des Tages<lb/>
zu versichern, daß sie nicht einen Schatten von Selbständigkeit aufweise, daß<lb/>
sie ganz und gar modern sei, das heißt ganz und gar naturlos, modisch kon¬<lb/>
ventionell, gemacht, nicht gezeugt. Es ist zu fürchten, daß die Reklame in nur<lb/>
zu vielen Fällen vollkommen recht hat. Aber es giebt unzweifelhaft auch<lb/>
unter den Dichtern der Gegenwart etliche, die das Knie nicht vor Baal ge¬<lb/>
beugt haben.  Jeder revolutionären Enge werden sich kräftige und nach</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0486] Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur der Klassik vorgeführt wurde. Selbst seine Lobredner merkten nicht oder nur ganz vereinzelt, welch eine selbständige Natur in den Werken immer eigen- tümlichem Ausdruck fand, welch eine mächtige, wenn auch im Ausdruck oft spröde künstlerische und geistige Entwicklung hinter den angeblich „akademischen" Schöpfungen des Dichters vor sich ging. Nun freilich giebt es Grillparzer- gesellschaften, ein Grillparzerjahrbuch und eine ganze Grillparzerlitteratur! Unter Umständen beruft sich die der jüngste» Revolution entstammende und von ihr getriebne Kritik ans unser Beispiel und macht geltend, daß sich alles, was der romantischen und der jungdcutsch-politischen Beurteilung dunkel geblieben sei, dem modernen Urteil leicht erhellt habe. Dies ist denn auch insoweit wahr, als sich Vorkämpfer Ibsens Verdienste um die rückschauende Würdigung der realistischen Seite von Grillparzers Kunst erworben und die Persönlichkeit des Dichters zuerst voll erkannt haben. Nichtsdestoweniger bleibt es gewiß, daß die jüngste, rein das Parteiprogramm vertretende, in allen Fibern revolutionäre Littcraturanschauuug dieselbe Unfähigkeit zur Erfassung einer wirklich bedeutenden eutwicklungsreicheu Dichternatur, die unter uns lebte, erweisen würde, der die romantisierende und liberalisierende Kritik nicht minder als die akademische, pseudoklassische verfallen ist. Denn keine einigermaßen be¬ deutende poetische und künstlerische Entwicklung vollzieht sich im Rahmen einer revolutionären Bewegung, selbst wo diese Bewegung zunächst eine» Auf¬ schwung bedeutet hätte. Und so wird immer wieder die Anschauung und die Empfänglichkeit zu Recht kommen, die Gehalt und Wert der poetischen Erschei¬ nungen nicht an ihrer Übereinstimmung mit einer gewissen Zahl von neuen stilistischen Forderungen, sondern an Welt und Leben mißt und darauf beharrt, daß Welt und Lebe» größer, mächtiger und vielartiger siud, als die Begriffe und Vorurteile irgend welcher Schule, Klique oder Richtung. Daß diese ob¬ jektive, zuletzt allein fruchtbare und siegreiche Anschauung den poetischen Leistungen unsrer Tage gegenüber in ganz besondrer Weise erschwert ist, liegt in dein wunderlichen Bunde, den die neuste Litteratur und Kunst mit der ohr- und seelcnbetäubcnden Reklame eingegangen ist. Während den Schaffenden alles daran liegen müßte, als Individualitäten, als selbständige Naturen zu gelten, während, wie wir gesehen haben, das ursprüngliche Losungswort jeder litterarischen Revolution Selbständigkeit, freie Entfaltung der poetischen Natur war, beeifert sich die Reklame, die nichts andres kennt als Sensation und Sensation nur innerhalb der Mode hofft, von jeder Schöpfung des Tages zu versichern, daß sie nicht einen Schatten von Selbständigkeit aufweise, daß sie ganz und gar modern sei, das heißt ganz und gar naturlos, modisch kon¬ ventionell, gemacht, nicht gezeugt. Es ist zu fürchten, daß die Reklame in nur zu vielen Fällen vollkommen recht hat. Aber es giebt unzweifelhaft auch unter den Dichtern der Gegenwart etliche, die das Knie nicht vor Baal ge¬ beugt haben. Jeder revolutionären Enge werden sich kräftige und nach

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/486
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/486>, abgerufen am 21.05.2024.