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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Der Arm der Gerechtigkeit

wenigsten in Betracht, da Heiden, Juden und Christen in gleicher Weise solche
Zauberrezepte anwandten. Und wie wenig wissen wir überhaupt von dem
Gnosticismus! Auch bezüglich des eselsköpfigcn Gottes -- wenn es wirklich
ein Eselskopf ist, den die Figur auf deu Tafeln aufweist -- ist noch keines¬
wegs das letzte Wort gesprochen. Man erinnere sich, daß ein uraltes Wand¬
gemälde aus Mykenü drei menschliche Figuren mit Eselsköpfen zeigt; daß sich
am Gewand der Demeter des Damophon in Lykosura eselsköpfige Tünzer
dargestellt finden. Ob es da Zusammenhänge giebt -- wer kann das einst¬
weilen sagen!

In der Einleitung zu den attischen Verfluchungstafeln hat Wünsch auch
eine Hypothese über die Entstehung und Verbreitung dieses Zauberwesens auf¬
gestellt. Da die ältesten Täfelchen aus Attika stammen, so vermutet er, der
Brauch sei von dort ausgegangen; von da habe er sich weiter verbreitet nach
Italien und Rom, wo man ihn früher nicht gekannt habe, da alle dort ge-
fundnen Defixionen jüngern Datums sind; dann nach Ägypten, wo nun, be¬
sonders in Alexandria und andern Orten mit griechischer Kultur, die griechischen
Elemente des Zaubers eine starke Vermischung mit orientalischen erfuhren.
Diese neue Zaubcrweise habe dann wieder von Ägypten aus den Weg nach
Nordafrika, Cypern und zurück nach Italien genommen. Schließlich sei der
Aberglaube durch die römischen Legionen über das ganze römische Reich hin
verbreitet worden, bis das Christentum kam, das teils in gnostischer Form
ebenfalls von solchen Defixionen Gebrauch machte, teils ihnen einen andern
Weg wies, indem sich die Verfluchungen gegen die Feinde der Kirche kehrten.
Es muß abgewartet werden, ob weitere Funde, die sicher uicht ausbleiben
werden, diesen vorläufig skizzierten Entwicklungsgang des Brauches der Ver¬
fluchungstafeln bestätigen werden. Zur sichern Annahme der Hypothese reicht
das vorliegende Material entschieden noch nicht aus, ein einziger Fund kann
da das Ganze über den Haufen werfen.




Der Arm der Gerechtigkeit

s ist nun schon einige Jahre her, dn traf ich eines Tags beim
schleudern durch Berlin in einer der weniger belebten Nebenstraßen
ein ganzes Rudel Jungen, die eifrig mit Murmelspielen beschäftigt
waren. Sie hatten sich vou einer der Granitplatten des Trottoirs eine
Ecke abgeschlagen, und um dieses so geschaffue Glücksloch konzentrierter
sich nun ausschließlich die Interessen der kleinen Hasardeurs. Mein Zu¬
schauen schien sie wenig zu belästige", denn ohne sich irgendwie in ihrem Vergnügen
stören zu lassen, schoben sie ruhig weiter, stritten sich gelegentlich hitzig um den


Der Arm der Gerechtigkeit

wenigsten in Betracht, da Heiden, Juden und Christen in gleicher Weise solche
Zauberrezepte anwandten. Und wie wenig wissen wir überhaupt von dem
Gnosticismus! Auch bezüglich des eselsköpfigcn Gottes — wenn es wirklich
ein Eselskopf ist, den die Figur auf deu Tafeln aufweist — ist noch keines¬
wegs das letzte Wort gesprochen. Man erinnere sich, daß ein uraltes Wand¬
gemälde aus Mykenü drei menschliche Figuren mit Eselsköpfen zeigt; daß sich
am Gewand der Demeter des Damophon in Lykosura eselsköpfige Tünzer
dargestellt finden. Ob es da Zusammenhänge giebt — wer kann das einst¬
weilen sagen!

In der Einleitung zu den attischen Verfluchungstafeln hat Wünsch auch
eine Hypothese über die Entstehung und Verbreitung dieses Zauberwesens auf¬
gestellt. Da die ältesten Täfelchen aus Attika stammen, so vermutet er, der
Brauch sei von dort ausgegangen; von da habe er sich weiter verbreitet nach
Italien und Rom, wo man ihn früher nicht gekannt habe, da alle dort ge-
fundnen Defixionen jüngern Datums sind; dann nach Ägypten, wo nun, be¬
sonders in Alexandria und andern Orten mit griechischer Kultur, die griechischen
Elemente des Zaubers eine starke Vermischung mit orientalischen erfuhren.
Diese neue Zaubcrweise habe dann wieder von Ägypten aus den Weg nach
Nordafrika, Cypern und zurück nach Italien genommen. Schließlich sei der
Aberglaube durch die römischen Legionen über das ganze römische Reich hin
verbreitet worden, bis das Christentum kam, das teils in gnostischer Form
ebenfalls von solchen Defixionen Gebrauch machte, teils ihnen einen andern
Weg wies, indem sich die Verfluchungen gegen die Feinde der Kirche kehrten.
Es muß abgewartet werden, ob weitere Funde, die sicher uicht ausbleiben
werden, diesen vorläufig skizzierten Entwicklungsgang des Brauches der Ver¬
fluchungstafeln bestätigen werden. Zur sichern Annahme der Hypothese reicht
das vorliegende Material entschieden noch nicht aus, ein einziger Fund kann
da das Ganze über den Haufen werfen.




Der Arm der Gerechtigkeit

s ist nun schon einige Jahre her, dn traf ich eines Tags beim
schleudern durch Berlin in einer der weniger belebten Nebenstraßen
ein ganzes Rudel Jungen, die eifrig mit Murmelspielen beschäftigt
waren. Sie hatten sich vou einer der Granitplatten des Trottoirs eine
Ecke abgeschlagen, und um dieses so geschaffue Glücksloch konzentrierter
sich nun ausschließlich die Interessen der kleinen Hasardeurs. Mein Zu¬
schauen schien sie wenig zu belästige«, denn ohne sich irgendwie in ihrem Vergnügen
stören zu lassen, schoben sie ruhig weiter, stritten sich gelegentlich hitzig um den


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[0547] Der Arm der Gerechtigkeit wenigsten in Betracht, da Heiden, Juden und Christen in gleicher Weise solche Zauberrezepte anwandten. Und wie wenig wissen wir überhaupt von dem Gnosticismus! Auch bezüglich des eselsköpfigcn Gottes — wenn es wirklich ein Eselskopf ist, den die Figur auf deu Tafeln aufweist — ist noch keines¬ wegs das letzte Wort gesprochen. Man erinnere sich, daß ein uraltes Wand¬ gemälde aus Mykenü drei menschliche Figuren mit Eselsköpfen zeigt; daß sich am Gewand der Demeter des Damophon in Lykosura eselsköpfige Tünzer dargestellt finden. Ob es da Zusammenhänge giebt — wer kann das einst¬ weilen sagen! In der Einleitung zu den attischen Verfluchungstafeln hat Wünsch auch eine Hypothese über die Entstehung und Verbreitung dieses Zauberwesens auf¬ gestellt. Da die ältesten Täfelchen aus Attika stammen, so vermutet er, der Brauch sei von dort ausgegangen; von da habe er sich weiter verbreitet nach Italien und Rom, wo man ihn früher nicht gekannt habe, da alle dort ge- fundnen Defixionen jüngern Datums sind; dann nach Ägypten, wo nun, be¬ sonders in Alexandria und andern Orten mit griechischer Kultur, die griechischen Elemente des Zaubers eine starke Vermischung mit orientalischen erfuhren. Diese neue Zaubcrweise habe dann wieder von Ägypten aus den Weg nach Nordafrika, Cypern und zurück nach Italien genommen. Schließlich sei der Aberglaube durch die römischen Legionen über das ganze römische Reich hin verbreitet worden, bis das Christentum kam, das teils in gnostischer Form ebenfalls von solchen Defixionen Gebrauch machte, teils ihnen einen andern Weg wies, indem sich die Verfluchungen gegen die Feinde der Kirche kehrten. Es muß abgewartet werden, ob weitere Funde, die sicher uicht ausbleiben werden, diesen vorläufig skizzierten Entwicklungsgang des Brauches der Ver¬ fluchungstafeln bestätigen werden. Zur sichern Annahme der Hypothese reicht das vorliegende Material entschieden noch nicht aus, ein einziger Fund kann da das Ganze über den Haufen werfen. Der Arm der Gerechtigkeit s ist nun schon einige Jahre her, dn traf ich eines Tags beim schleudern durch Berlin in einer der weniger belebten Nebenstraßen ein ganzes Rudel Jungen, die eifrig mit Murmelspielen beschäftigt waren. Sie hatten sich vou einer der Granitplatten des Trottoirs eine Ecke abgeschlagen, und um dieses so geschaffue Glücksloch konzentrierter sich nun ausschließlich die Interessen der kleinen Hasardeurs. Mein Zu¬ schauen schien sie wenig zu belästige«, denn ohne sich irgendwie in ihrem Vergnügen stören zu lassen, schoben sie ruhig weiter, stritten sich gelegentlich hitzig um den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/547>, abgerufen am 30.04.2024.