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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Über Jakob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte

dieser Zumutung auszumalen, ferner, wie Sokrates dann den Bescheid für bare
Münze nimmt, darob tief nachsinnt und endlich bei den Athenern aller Stände
herumgeht, um ihnen darzuthun, daß sie nicht weise seien." Dieser ganze
Gegenstand mußte doch ganz anders angefaßt werden, wenn etwas daraus hätte
werden sollen, was des Geistes Burckhardts würdig war. Sonst aber war es
besser, ihn den bloß gelehrten Leuten, wie Schömann, zu überlassen.


4

So recht im Geiste des Verfassers der "Kultur der Renaissance" ge¬
schrieben ist der anziehende letzte Abschnitt: Zur Gesamtbilanz des griechischen
Lebens. Der Titel ist freilich bildlich zu nehmen, wenn er nicht täuschen soll,
denn zu einem reinlichen Abschluß kann ja die Rechnung über die "Ansicht des
Lebens" bei einem ganzen Volke niemals führen. Unter diesen Begriff fällt
die Meinung vom Werte der Götter und vom Jenseits, die ganze von der
Nation empfundne Sittlichkeit, das Wünschen und die Reihenfolge der Güter,
endlich die Meinung der Nation von dem Werte dieses so vielfach bedingten
Lebens überhaupt, und auf jedem dieser einzelnen Gebiete hat die Betrachtung,
um zu einer allgemeinen Fassung zu gelangen, Voraussetzungen, Einschränkungen
und Vorbehalte aller Art vorzunehmen. Aber dadurch, daß die Einzelbeobach-
tung immer wieder auf jenen Hauptbegriff bezöge" wird, erhält die Dar¬
legung etwas so außerordentlich anregendes, daß man Hütte wünschen mögen,
wir hätten ein ganzes Buch von Burckhardt bekommen in der Einkleidung
dieses Abschnitts.

Es giebt zweierlei Ethik bei allen Völkern, die wirkliche mit den bessern
Zügen des Volkslebens, und die von den Philosophen gelehrte, geforderte.
Diese hat bei den Griechen auf das Volk offenbar wenig eingewirkt, sie kann
uns aber zeigen, "an welchen Stellen die Nation wenigstens hätte ein böses
Gewissen haben sollen." Alle philosophische Ethik wird überragt von der edeln
und reinen homerischen Welt. "Hier waltet eine noch nicht durch Reflexion
zersetzte Empfindung, eine noch nicht zerschwatzte Sitte, eine Güte und ein
Zartgefühl, woneben das ausgebildete Griechentum mit all seiner geistigen Ver¬
feinerung seelisch roh und abgestumpft erscheint." Dem Weiterleben Homers
verdankte nicht nur ein Äschylos oder Sophokles, sondern die ganze spätere
Zeit viel: das seelische Verständnis für das Feinste und Beste im menschlichen
Verkehr, das einst die Zuhörer des Sängers gewonnen hatten, wirkte auf die
vorzüglichern Menschen noch nach, die andern gingen mit im Strom des
Lebens einer griechischen Polis.

Bei der Besprechung der griechischen Charaktereigenschaften möchte ich, da
es sich um bekanntes handelt, nur einige glückliche Ausdrücke Burckhardts
hervorheben: das "Recht zur Unwahrheit"; das "viele und feierliche Schwören,"
kein andres Volk hat so reiche "Eidesantiquitüten" aufzuweisen. Gründlich


Über Jakob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte

dieser Zumutung auszumalen, ferner, wie Sokrates dann den Bescheid für bare
Münze nimmt, darob tief nachsinnt und endlich bei den Athenern aller Stände
herumgeht, um ihnen darzuthun, daß sie nicht weise seien." Dieser ganze
Gegenstand mußte doch ganz anders angefaßt werden, wenn etwas daraus hätte
werden sollen, was des Geistes Burckhardts würdig war. Sonst aber war es
besser, ihn den bloß gelehrten Leuten, wie Schömann, zu überlassen.


4

So recht im Geiste des Verfassers der „Kultur der Renaissance" ge¬
schrieben ist der anziehende letzte Abschnitt: Zur Gesamtbilanz des griechischen
Lebens. Der Titel ist freilich bildlich zu nehmen, wenn er nicht täuschen soll,
denn zu einem reinlichen Abschluß kann ja die Rechnung über die „Ansicht des
Lebens" bei einem ganzen Volke niemals führen. Unter diesen Begriff fällt
die Meinung vom Werte der Götter und vom Jenseits, die ganze von der
Nation empfundne Sittlichkeit, das Wünschen und die Reihenfolge der Güter,
endlich die Meinung der Nation von dem Werte dieses so vielfach bedingten
Lebens überhaupt, und auf jedem dieser einzelnen Gebiete hat die Betrachtung,
um zu einer allgemeinen Fassung zu gelangen, Voraussetzungen, Einschränkungen
und Vorbehalte aller Art vorzunehmen. Aber dadurch, daß die Einzelbeobach-
tung immer wieder auf jenen Hauptbegriff bezöge» wird, erhält die Dar¬
legung etwas so außerordentlich anregendes, daß man Hütte wünschen mögen,
wir hätten ein ganzes Buch von Burckhardt bekommen in der Einkleidung
dieses Abschnitts.

Es giebt zweierlei Ethik bei allen Völkern, die wirkliche mit den bessern
Zügen des Volkslebens, und die von den Philosophen gelehrte, geforderte.
Diese hat bei den Griechen auf das Volk offenbar wenig eingewirkt, sie kann
uns aber zeigen, „an welchen Stellen die Nation wenigstens hätte ein böses
Gewissen haben sollen." Alle philosophische Ethik wird überragt von der edeln
und reinen homerischen Welt. „Hier waltet eine noch nicht durch Reflexion
zersetzte Empfindung, eine noch nicht zerschwatzte Sitte, eine Güte und ein
Zartgefühl, woneben das ausgebildete Griechentum mit all seiner geistigen Ver¬
feinerung seelisch roh und abgestumpft erscheint." Dem Weiterleben Homers
verdankte nicht nur ein Äschylos oder Sophokles, sondern die ganze spätere
Zeit viel: das seelische Verständnis für das Feinste und Beste im menschlichen
Verkehr, das einst die Zuhörer des Sängers gewonnen hatten, wirkte auf die
vorzüglichern Menschen noch nach, die andern gingen mit im Strom des
Lebens einer griechischen Polis.

Bei der Besprechung der griechischen Charaktereigenschaften möchte ich, da
es sich um bekanntes handelt, nur einige glückliche Ausdrücke Burckhardts
hervorheben: das „Recht zur Unwahrheit"; das „viele und feierliche Schwören,"
kein andres Volk hat so reiche „Eidesantiquitüten" aufzuweisen. Gründlich


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[0090] Über Jakob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte dieser Zumutung auszumalen, ferner, wie Sokrates dann den Bescheid für bare Münze nimmt, darob tief nachsinnt und endlich bei den Athenern aller Stände herumgeht, um ihnen darzuthun, daß sie nicht weise seien." Dieser ganze Gegenstand mußte doch ganz anders angefaßt werden, wenn etwas daraus hätte werden sollen, was des Geistes Burckhardts würdig war. Sonst aber war es besser, ihn den bloß gelehrten Leuten, wie Schömann, zu überlassen. 4 So recht im Geiste des Verfassers der „Kultur der Renaissance" ge¬ schrieben ist der anziehende letzte Abschnitt: Zur Gesamtbilanz des griechischen Lebens. Der Titel ist freilich bildlich zu nehmen, wenn er nicht täuschen soll, denn zu einem reinlichen Abschluß kann ja die Rechnung über die „Ansicht des Lebens" bei einem ganzen Volke niemals führen. Unter diesen Begriff fällt die Meinung vom Werte der Götter und vom Jenseits, die ganze von der Nation empfundne Sittlichkeit, das Wünschen und die Reihenfolge der Güter, endlich die Meinung der Nation von dem Werte dieses so vielfach bedingten Lebens überhaupt, und auf jedem dieser einzelnen Gebiete hat die Betrachtung, um zu einer allgemeinen Fassung zu gelangen, Voraussetzungen, Einschränkungen und Vorbehalte aller Art vorzunehmen. Aber dadurch, daß die Einzelbeobach- tung immer wieder auf jenen Hauptbegriff bezöge» wird, erhält die Dar¬ legung etwas so außerordentlich anregendes, daß man Hütte wünschen mögen, wir hätten ein ganzes Buch von Burckhardt bekommen in der Einkleidung dieses Abschnitts. Es giebt zweierlei Ethik bei allen Völkern, die wirkliche mit den bessern Zügen des Volkslebens, und die von den Philosophen gelehrte, geforderte. Diese hat bei den Griechen auf das Volk offenbar wenig eingewirkt, sie kann uns aber zeigen, „an welchen Stellen die Nation wenigstens hätte ein böses Gewissen haben sollen." Alle philosophische Ethik wird überragt von der edeln und reinen homerischen Welt. „Hier waltet eine noch nicht durch Reflexion zersetzte Empfindung, eine noch nicht zerschwatzte Sitte, eine Güte und ein Zartgefühl, woneben das ausgebildete Griechentum mit all seiner geistigen Ver¬ feinerung seelisch roh und abgestumpft erscheint." Dem Weiterleben Homers verdankte nicht nur ein Äschylos oder Sophokles, sondern die ganze spätere Zeit viel: das seelische Verständnis für das Feinste und Beste im menschlichen Verkehr, das einst die Zuhörer des Sängers gewonnen hatten, wirkte auf die vorzüglichern Menschen noch nach, die andern gingen mit im Strom des Lebens einer griechischen Polis. Bei der Besprechung der griechischen Charaktereigenschaften möchte ich, da es sich um bekanntes handelt, nur einige glückliche Ausdrücke Burckhardts hervorheben: das „Recht zur Unwahrheit"; das „viele und feierliche Schwören," kein andres Volk hat so reiche „Eidesantiquitüten" aufzuweisen. Gründlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/90>, abgerufen am 30.04.2024.