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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Über Jakob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte

nicht das Früheste," das Epos war schon früher von der Schönheit der
Olympier erfüllt gewesen. "Auch ist die Kunst überhaupt nicht eine Grund¬
kraft der Religionen; das Heiligtum, in dem sie heranzuwachsen pflegt, muß
schon vor ihr vorhanden sein." Die Kunst kann aber eine Stütze der Religion
werden; so erhöhte bei den Griechen der Zeus des Phidias die Andacht. Die
griechischen Götter sind überhaupt ihren Künstlern den höchsten Dank schuldig,
denu diese gaben ihnen "nicht nur eine im Grunde unverdiente Idealität an
sich" (eine echt Burckhardtsche Wendung, durch die ein schnelles Lächeln blitzt),
sondern auch eine auf Übereinkommen zwischen Künstlern und Volk beruhende.
Die Künstler aber konnten immer neu schaffen, allen politischen und sozialen
Wandlungen, aller zersetzenden Kritik zum Trotz, und die Nation traute und
glaubte ihnen; die Dichtung hatte jene Kraft längst nicht mehr. Die unge¬
nannten Künstler des pergamenischen Altars bewiesen, daß im zweiten Jahr¬
hundert das "Neuschauen von Göttern" noch nicht aufgehört habe, worüber
sich die Kunsthistoriker unnötige Sorge gemacht hätten. "Dieses schöne Götter¬
volk stand in Tempeln, in heiligen Bezirken, auf den Gassen und Plätzen der
Städte und auch draußen im Freien bis in die Waldeinsamkeit. Von ihrer
Empfindung diesem allem gegenüber haben die Griechen keine Worte gemacht,
und inwieweit auch das feierlichste Kultbild eines Tempels die Gottheit selbst
sei, hat etwa einmal ein Zweifler, aber nie das Volk selbst erörtert."

Der fünfte Abschnitt -- die Erkundung der Zukunft -- beginnt mit einer
spannenden Betrachtung über das Wunderbare in den verschiednen Zeitaltern,
deren Ergebnis ist: man könne wohl sagen, es sei einer der stärksten Unter¬
schiede zwischen uns und der alten Welt, daß "diese die Zukunft wunderbar
zu erkunden hoffte oder glaubte, und wir nicht." "An der Thatsache des
Zeichens, der Ahnung zweifelte damals niemand," und die Griechen würden,
wenn wir sie fragten, antworten: Wenn ihr unsre Augen hättet, so würdet ihr
die Zukunft durch Vorzeichen aller Art sich aufdrängen sehen.

In solchen allgemeinen Einleitungen ist Burckhardt Meister; dem Gegen¬
stand ist damit unser volles Interesse sicher. Aber der Inhalt entspricht diesmal
unsern Erwartungen nicht. Es wird über Vogelflug, Mantik und Orakel ge¬
handelt wie in unsern Handbüchern, aber mit besserer Hervorhebung des Wich¬
tigen und etwas lebendiger, mit aktuellen Hinweisungen darauf, daß das Gebiet
nicht dem angestellten Priestertum unterstand, mit Gedanken an Magnetismus
und ähnlichem, wobei dann rechtzeitig ein vorbeugendes Geständnis eingreift:
"Wir empfinden einiges Widerstreben, uns diese Dinge gar zu genau vorstellig
zu machen," oder auch eine spaßhafte, meisterlich erzählte Anekdote. Zum Bei¬
spiel: Eine sehr thörichte Frage sei leider zu sicher bezeugt. Sokrates habe
seinen Chärophon nach Delphi gehn lassen, allwo dieser fragte, ob es einen
weisern Menschen gebe als Sokrates? worauf die Pythia antwortete: Nein,
keinen weisern. "Es genügt, sich die Mienen der Männer von Delphi bei


Grenzboton II 1899 I I
Über Jakob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte

nicht das Früheste," das Epos war schon früher von der Schönheit der
Olympier erfüllt gewesen. „Auch ist die Kunst überhaupt nicht eine Grund¬
kraft der Religionen; das Heiligtum, in dem sie heranzuwachsen pflegt, muß
schon vor ihr vorhanden sein." Die Kunst kann aber eine Stütze der Religion
werden; so erhöhte bei den Griechen der Zeus des Phidias die Andacht. Die
griechischen Götter sind überhaupt ihren Künstlern den höchsten Dank schuldig,
denu diese gaben ihnen „nicht nur eine im Grunde unverdiente Idealität an
sich" (eine echt Burckhardtsche Wendung, durch die ein schnelles Lächeln blitzt),
sondern auch eine auf Übereinkommen zwischen Künstlern und Volk beruhende.
Die Künstler aber konnten immer neu schaffen, allen politischen und sozialen
Wandlungen, aller zersetzenden Kritik zum Trotz, und die Nation traute und
glaubte ihnen; die Dichtung hatte jene Kraft längst nicht mehr. Die unge¬
nannten Künstler des pergamenischen Altars bewiesen, daß im zweiten Jahr¬
hundert das „Neuschauen von Göttern" noch nicht aufgehört habe, worüber
sich die Kunsthistoriker unnötige Sorge gemacht hätten. „Dieses schöne Götter¬
volk stand in Tempeln, in heiligen Bezirken, auf den Gassen und Plätzen der
Städte und auch draußen im Freien bis in die Waldeinsamkeit. Von ihrer
Empfindung diesem allem gegenüber haben die Griechen keine Worte gemacht,
und inwieweit auch das feierlichste Kultbild eines Tempels die Gottheit selbst
sei, hat etwa einmal ein Zweifler, aber nie das Volk selbst erörtert."

Der fünfte Abschnitt — die Erkundung der Zukunft — beginnt mit einer
spannenden Betrachtung über das Wunderbare in den verschiednen Zeitaltern,
deren Ergebnis ist: man könne wohl sagen, es sei einer der stärksten Unter¬
schiede zwischen uns und der alten Welt, daß „diese die Zukunft wunderbar
zu erkunden hoffte oder glaubte, und wir nicht." „An der Thatsache des
Zeichens, der Ahnung zweifelte damals niemand," und die Griechen würden,
wenn wir sie fragten, antworten: Wenn ihr unsre Augen hättet, so würdet ihr
die Zukunft durch Vorzeichen aller Art sich aufdrängen sehen.

In solchen allgemeinen Einleitungen ist Burckhardt Meister; dem Gegen¬
stand ist damit unser volles Interesse sicher. Aber der Inhalt entspricht diesmal
unsern Erwartungen nicht. Es wird über Vogelflug, Mantik und Orakel ge¬
handelt wie in unsern Handbüchern, aber mit besserer Hervorhebung des Wich¬
tigen und etwas lebendiger, mit aktuellen Hinweisungen darauf, daß das Gebiet
nicht dem angestellten Priestertum unterstand, mit Gedanken an Magnetismus
und ähnlichem, wobei dann rechtzeitig ein vorbeugendes Geständnis eingreift:
„Wir empfinden einiges Widerstreben, uns diese Dinge gar zu genau vorstellig
zu machen," oder auch eine spaßhafte, meisterlich erzählte Anekdote. Zum Bei¬
spiel: Eine sehr thörichte Frage sei leider zu sicher bezeugt. Sokrates habe
seinen Chärophon nach Delphi gehn lassen, allwo dieser fragte, ob es einen
weisern Menschen gebe als Sokrates? worauf die Pythia antwortete: Nein,
keinen weisern. „Es genügt, sich die Mienen der Männer von Delphi bei


Grenzboton II 1899 I I
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/89>, abgerufen am 21.05.2024.