Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr.Versuche einer Erneuerung des Christentums in Frühjahr 1799 ist Schleiermachers Schrift: über die Versuche einer Erneuerung des Christentums in Frühjahr 1799 ist Schleiermachers Schrift: über die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0094" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231906"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341869_231811/figures/grenzboten_341869_231811_231906_000.jpg"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Versuche einer Erneuerung des Christentums</head><lb/> <p xml:id="ID_340" next="#ID_341"> in Frühjahr 1799 ist Schleiermachers Schrift: über die<lb/> Religion. Reden an die gebildeten unter ihren Ver¬<lb/> ächtern anonym erschienen. Von den zahlreichen Verehrern des<lb/> berühmten Mannes haben wohl die wenigsten sein vielgepriesenes<lb/> Werk gelesen, und diese meist nur in den spätern, stark ver¬<lb/> änderten Ausgaben von 1806 und 1821. Wer nun jetzt die vom Lizentiaten<lb/> Rudolf Otto (bei Vcmdenhoeck und Ruprecht in Göttingen) herausgegebne<lb/> Jubiläumsausgabe der Urschrift liest, wird weniger und mehr finden, als er<lb/> erwartet hat. Weniger, weil das Büchlein der einschmeichelnden oder packenden<lb/> Form entbehrt, man daher heute, wo die Waren, seien es Kleider und Speisen<lb/> oder Musikstücke und Bücher, nur Abnehmer finden, wenn der Gebrauch oder<lb/> Genuß den Konsumenten bequem gemacht wird, nicht recht versteht, wie es<lb/> seiner Zeit gezündet haben kann. Es ist schwerfällig geschrieben und stellenweise<lb/> so dunkel, daß sich der Herausgeber der dankenswerten Mühe unterzogen hat,<lb/> dem Leser durch Anmerkungen und einen unter dem Text fortlaufenden „Leit¬<lb/> faden des Gedankenzusammenhangs" die Arbeit zu erleichtern. Weniger geübte<lb/> Leser, die den merkwürdigen Mann und seine merkwürdige Schrift kennen lernen<lb/> wollen, werden gut thun, das Buch vom Pfarrer M. Fischer: Schleier¬<lb/> macher (Berlin, C. A. Schwetschke und Sohn, 1899) zu Hilfe zu nehmen.<lb/> Es ist dem Berliner Unionsverein gewidmet, dessen Gründer „Schleiermachers<lb/> treuste Schüler und Verehrer im bewußten Erfassen seiner befreienden Richtung"<lb/> gewesen seien, und stellt Schleiermachers Lehre im Zusammenhang dar nach<lb/> den „Reden," nach seinen philosophischen Schriften und seinen Predigten.<lb/> Mehr aber findet der Neuling, als er erwartet hatte, insofern, als die Reden<lb/> ein ganz originelles, großartiges, die ganze Erscheinungswelt umfassendes<lb/> System darbieten. Ein System der Mystik, um es mit einem Worte zu<lb/> charakterisieren, einem Worte, das auszusprechen Schleiermacher selbst sich<lb/> nicht gescheut hat. In den Augen der Orthodoxen nicht allein, sondern auch<lb/> der Moralisten der Kantischen Schule, der Staatskirchler und aller ordnungs¬<lb/> liebenden Philister muß er der verabscheuungswürdigste und gefährlichste Ketzer<lb/> sein, den innigen, sinnigen Seelen, denen der Spruch, daß Frömmigkeit zu<lb/> allen Dingen nütze sei, nicht gerade der liebste in der Bibel ist, wird er immer</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0094]
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Versuche einer Erneuerung des Christentums
in Frühjahr 1799 ist Schleiermachers Schrift: über die
Religion. Reden an die gebildeten unter ihren Ver¬
ächtern anonym erschienen. Von den zahlreichen Verehrern des
berühmten Mannes haben wohl die wenigsten sein vielgepriesenes
Werk gelesen, und diese meist nur in den spätern, stark ver¬
änderten Ausgaben von 1806 und 1821. Wer nun jetzt die vom Lizentiaten
Rudolf Otto (bei Vcmdenhoeck und Ruprecht in Göttingen) herausgegebne
Jubiläumsausgabe der Urschrift liest, wird weniger und mehr finden, als er
erwartet hat. Weniger, weil das Büchlein der einschmeichelnden oder packenden
Form entbehrt, man daher heute, wo die Waren, seien es Kleider und Speisen
oder Musikstücke und Bücher, nur Abnehmer finden, wenn der Gebrauch oder
Genuß den Konsumenten bequem gemacht wird, nicht recht versteht, wie es
seiner Zeit gezündet haben kann. Es ist schwerfällig geschrieben und stellenweise
so dunkel, daß sich der Herausgeber der dankenswerten Mühe unterzogen hat,
dem Leser durch Anmerkungen und einen unter dem Text fortlaufenden „Leit¬
faden des Gedankenzusammenhangs" die Arbeit zu erleichtern. Weniger geübte
Leser, die den merkwürdigen Mann und seine merkwürdige Schrift kennen lernen
wollen, werden gut thun, das Buch vom Pfarrer M. Fischer: Schleier¬
macher (Berlin, C. A. Schwetschke und Sohn, 1899) zu Hilfe zu nehmen.
Es ist dem Berliner Unionsverein gewidmet, dessen Gründer „Schleiermachers
treuste Schüler und Verehrer im bewußten Erfassen seiner befreienden Richtung"
gewesen seien, und stellt Schleiermachers Lehre im Zusammenhang dar nach
den „Reden," nach seinen philosophischen Schriften und seinen Predigten.
Mehr aber findet der Neuling, als er erwartet hatte, insofern, als die Reden
ein ganz originelles, großartiges, die ganze Erscheinungswelt umfassendes
System darbieten. Ein System der Mystik, um es mit einem Worte zu
charakterisieren, einem Worte, das auszusprechen Schleiermacher selbst sich
nicht gescheut hat. In den Augen der Orthodoxen nicht allein, sondern auch
der Moralisten der Kantischen Schule, der Staatskirchler und aller ordnungs¬
liebenden Philister muß er der verabscheuungswürdigste und gefährlichste Ketzer
sein, den innigen, sinnigen Seelen, denen der Spruch, daß Frömmigkeit zu
allen Dingen nütze sei, nicht gerade der liebste in der Bibel ist, wird er immer
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