Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Doch Wird der deutsche Leser fragen: Hat denn in einer Republik ein
einzelner soviel Gewalt, daß er gegen den gesetzgebenden Körper seine Ma߬
nahmen durchzusetzen vermöchte, daß in diesem Falle Bryan die Währung des
Landes bestimmen könnte? In dieser Frage stellt sich die neue Sachlage dar,
die neue Stufe der Entwicklung, in die die Republik eingetreten ist. Das
Imperium hat schon seinen Imperator gefunden. Wie er heißen wird, ist
gleichgiltig. Die letzte Umgestaltung, die das Zeitalter der Industrie hervor¬
bringt, wird die Umgestaltung der Staatsform sein. Die Republik ist nicht
konkurrenzfähig. Die Wähler geben Stimmen ab, aber sie wählen nicht mehr.
Andre Mächte als der Stimmzettel regieren auch hier die Welt.

Am 6. November werden sich mithin zwei Anschauungen, ja zwei Zeit¬
alter gegenüberstelln. Die Republik von 1800 wird gegen das Imperium
von 1900 kämpfen.


I. Hofmann


Maßgebliches und Unmaßgebliches
Kalewipoeg noch einmal.

Ur. 39 brachte eine Notiz über eine neue
Übersetzung des esthnischen Volksepos Kalewipoeg. Als Poesie betrachtet ist es nicht
gerade sehr eigentümlich, und als Literaturdenkmal jedenfalls auch nur von be¬
schränktem Interesse. Weil es aber für den Kreis, auf den die Ausgabe zunächst
berechnet war, von Wert ist, so besprach ich es freundlich und so, daß wohl der
Eindruck getroffen sein wird, den ein Durchschnittsleser bekommt, wenn er sich dnrch
die zwanzig Gesänge durchgelesen hat. Zur Andeutung des politischen und sozialen
Hintergrunds der Dichtung für unsre Leser hatte ich einige Sätze über Esthen,
Russen und Ballen vorausgeschickt in der Kürze, die mir der Bedeutung des Gegen¬
stands angemessen schien. Sie haben inzwischen einen baltischen Mitarbeiter der
"Kreuzzeitung" zu einem durch zwei Nummern gehenden Aufsatz angeregt mit der
Überschrift: Die Grenzboten und die Ballen.

Nachdem den Grenzboten im allgemeinen ein Zeugnis ihres Wohlverhaltens
ausgestellt worden ist, wird Klage geführt, daß sie neuerdings allerlei Mitarbeitern
erlaubt hatten, auf die Ballen zu' "schießen" in keltischer, esthnischer oder Plumvdemv-
kratischer Art. Eigentlich sei zwar für diese kenntnislosen und kurzsichtigen Leute
eine Kritik seitens der Kreuzzeitung eine zu hohe Ehre, aber ein Herr A. P. (so
zeichne ich meistens meine Grenzboteubeitrcige) müsse doch etwas näher untersucht
werden. "Er schließt sich mit den Reichsdeutschen als Wir zusammen. Er wird
also wohl in Deutschland leben. Daraus folgt noch uicht, daß er Deutscher von
Herkunft und Geblüt ist. ... Der Ton, den er anschlägt, ist merkwürdig undeutsch,
verrät aber doch indirekt deutsche Abkunft." -- Jedenfalls also ein vielsagender
Ton, und ein mysteriöser Mann, dieser A. P. Anstatt sich aber mit ihm näher
einzulassen, trägt der Verfasser seinen Lesern ausführlich die Geschichte seines Landes
vor in der korrekt baltischen Auffassung, die man öfters gehört hat, und die dadurch,
daß sie möglichst oft wiederholt wird, wohl nicht gerade an Überzeugungskraft ge¬
winnt. Er lehnt jede Verschuldung seiner Landsleute gegen die Esthen ab, obwohl


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Doch Wird der deutsche Leser fragen: Hat denn in einer Republik ein
einzelner soviel Gewalt, daß er gegen den gesetzgebenden Körper seine Ma߬
nahmen durchzusetzen vermöchte, daß in diesem Falle Bryan die Währung des
Landes bestimmen könnte? In dieser Frage stellt sich die neue Sachlage dar,
die neue Stufe der Entwicklung, in die die Republik eingetreten ist. Das
Imperium hat schon seinen Imperator gefunden. Wie er heißen wird, ist
gleichgiltig. Die letzte Umgestaltung, die das Zeitalter der Industrie hervor¬
bringt, wird die Umgestaltung der Staatsform sein. Die Republik ist nicht
konkurrenzfähig. Die Wähler geben Stimmen ab, aber sie wählen nicht mehr.
Andre Mächte als der Stimmzettel regieren auch hier die Welt.

Am 6. November werden sich mithin zwei Anschauungen, ja zwei Zeit¬
alter gegenüberstelln. Die Republik von 1800 wird gegen das Imperium
von 1900 kämpfen.


I. Hofmann


Maßgebliches und Unmaßgebliches
Kalewipoeg noch einmal.

Ur. 39 brachte eine Notiz über eine neue
Übersetzung des esthnischen Volksepos Kalewipoeg. Als Poesie betrachtet ist es nicht
gerade sehr eigentümlich, und als Literaturdenkmal jedenfalls auch nur von be¬
schränktem Interesse. Weil es aber für den Kreis, auf den die Ausgabe zunächst
berechnet war, von Wert ist, so besprach ich es freundlich und so, daß wohl der
Eindruck getroffen sein wird, den ein Durchschnittsleser bekommt, wenn er sich dnrch
die zwanzig Gesänge durchgelesen hat. Zur Andeutung des politischen und sozialen
Hintergrunds der Dichtung für unsre Leser hatte ich einige Sätze über Esthen,
Russen und Ballen vorausgeschickt in der Kürze, die mir der Bedeutung des Gegen¬
stands angemessen schien. Sie haben inzwischen einen baltischen Mitarbeiter der
„Kreuzzeitung" zu einem durch zwei Nummern gehenden Aufsatz angeregt mit der
Überschrift: Die Grenzboten und die Ballen.

Nachdem den Grenzboten im allgemeinen ein Zeugnis ihres Wohlverhaltens
ausgestellt worden ist, wird Klage geführt, daß sie neuerdings allerlei Mitarbeitern
erlaubt hatten, auf die Ballen zu' „schießen" in keltischer, esthnischer oder Plumvdemv-
kratischer Art. Eigentlich sei zwar für diese kenntnislosen und kurzsichtigen Leute
eine Kritik seitens der Kreuzzeitung eine zu hohe Ehre, aber ein Herr A. P. (so
zeichne ich meistens meine Grenzboteubeitrcige) müsse doch etwas näher untersucht
werden. „Er schließt sich mit den Reichsdeutschen als Wir zusammen. Er wird
also wohl in Deutschland leben. Daraus folgt noch uicht, daß er Deutscher von
Herkunft und Geblüt ist. ... Der Ton, den er anschlägt, ist merkwürdig undeutsch,
verrät aber doch indirekt deutsche Abkunft." — Jedenfalls also ein vielsagender
Ton, und ein mysteriöser Mann, dieser A. P. Anstatt sich aber mit ihm näher
einzulassen, trägt der Verfasser seinen Lesern ausführlich die Geschichte seines Landes
vor in der korrekt baltischen Auffassung, die man öfters gehört hat, und die dadurch,
daß sie möglichst oft wiederholt wird, wohl nicht gerade an Überzeugungskraft ge¬
winnt. Er lehnt jede Verschuldung seiner Landsleute gegen die Esthen ab, obwohl


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0320" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/291397"/>
          <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1061"> Doch Wird der deutsche Leser fragen: Hat denn in einer Republik ein<lb/>
einzelner soviel Gewalt, daß er gegen den gesetzgebenden Körper seine Ma߬<lb/>
nahmen durchzusetzen vermöchte, daß in diesem Falle Bryan die Währung des<lb/>
Landes bestimmen könnte? In dieser Frage stellt sich die neue Sachlage dar,<lb/>
die neue Stufe der Entwicklung, in die die Republik eingetreten ist. Das<lb/>
Imperium hat schon seinen Imperator gefunden. Wie er heißen wird, ist<lb/>
gleichgiltig. Die letzte Umgestaltung, die das Zeitalter der Industrie hervor¬<lb/>
bringt, wird die Umgestaltung der Staatsform sein. Die Republik ist nicht<lb/>
konkurrenzfähig. Die Wähler geben Stimmen ab, aber sie wählen nicht mehr.<lb/>
Andre Mächte als der Stimmzettel regieren auch hier die Welt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1062"> Am 6. November werden sich mithin zwei Anschauungen, ja zwei Zeit¬<lb/>
alter gegenüberstelln. Die Republik von 1800 wird gegen das Imperium<lb/>
von 1900 kämpfen.</p><lb/>
          <note type="byline"> I. Hofmann</note><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Maßgebliches und Unmaßgebliches</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Kalewipoeg noch einmal.</head>
            <p xml:id="ID_1063"> Ur. 39 brachte eine Notiz über eine neue<lb/>
Übersetzung des esthnischen Volksepos Kalewipoeg. Als Poesie betrachtet ist es nicht<lb/>
gerade sehr eigentümlich, und als Literaturdenkmal jedenfalls auch nur von be¬<lb/>
schränktem Interesse. Weil es aber für den Kreis, auf den die Ausgabe zunächst<lb/>
berechnet war, von Wert ist, so besprach ich es freundlich und so, daß wohl der<lb/>
Eindruck getroffen sein wird, den ein Durchschnittsleser bekommt, wenn er sich dnrch<lb/>
die zwanzig Gesänge durchgelesen hat. Zur Andeutung des politischen und sozialen<lb/>
Hintergrunds der Dichtung für unsre Leser hatte ich einige Sätze über Esthen,<lb/>
Russen und Ballen vorausgeschickt in der Kürze, die mir der Bedeutung des Gegen¬<lb/>
stands angemessen schien. Sie haben inzwischen einen baltischen Mitarbeiter der<lb/>
&#x201E;Kreuzzeitung" zu einem durch zwei Nummern gehenden Aufsatz angeregt mit der<lb/>
Überschrift: Die Grenzboten und die Ballen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1064" next="#ID_1065"> Nachdem den Grenzboten im allgemeinen ein Zeugnis ihres Wohlverhaltens<lb/>
ausgestellt worden ist, wird Klage geführt, daß sie neuerdings allerlei Mitarbeitern<lb/>
erlaubt hatten, auf die Ballen zu' &#x201E;schießen" in keltischer, esthnischer oder Plumvdemv-<lb/>
kratischer Art. Eigentlich sei zwar für diese kenntnislosen und kurzsichtigen Leute<lb/>
eine Kritik seitens der Kreuzzeitung eine zu hohe Ehre, aber ein Herr A. P. (so<lb/>
zeichne ich meistens meine Grenzboteubeitrcige) müsse doch etwas näher untersucht<lb/>
werden. &#x201E;Er schließt sich mit den Reichsdeutschen als Wir zusammen. Er wird<lb/>
also wohl in Deutschland leben. Daraus folgt noch uicht, daß er Deutscher von<lb/>
Herkunft und Geblüt ist. ... Der Ton, den er anschlägt, ist merkwürdig undeutsch,<lb/>
verrät aber doch indirekt deutsche Abkunft." &#x2014; Jedenfalls also ein vielsagender<lb/>
Ton, und ein mysteriöser Mann, dieser A. P. Anstatt sich aber mit ihm näher<lb/>
einzulassen, trägt der Verfasser seinen Lesern ausführlich die Geschichte seines Landes<lb/>
vor in der korrekt baltischen Auffassung, die man öfters gehört hat, und die dadurch,<lb/>
daß sie möglichst oft wiederholt wird, wohl nicht gerade an Überzeugungskraft ge¬<lb/>
winnt. Er lehnt jede Verschuldung seiner Landsleute gegen die Esthen ab, obwohl</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0320] Maßgebliches und Unmaßgebliches Doch Wird der deutsche Leser fragen: Hat denn in einer Republik ein einzelner soviel Gewalt, daß er gegen den gesetzgebenden Körper seine Ma߬ nahmen durchzusetzen vermöchte, daß in diesem Falle Bryan die Währung des Landes bestimmen könnte? In dieser Frage stellt sich die neue Sachlage dar, die neue Stufe der Entwicklung, in die die Republik eingetreten ist. Das Imperium hat schon seinen Imperator gefunden. Wie er heißen wird, ist gleichgiltig. Die letzte Umgestaltung, die das Zeitalter der Industrie hervor¬ bringt, wird die Umgestaltung der Staatsform sein. Die Republik ist nicht konkurrenzfähig. Die Wähler geben Stimmen ab, aber sie wählen nicht mehr. Andre Mächte als der Stimmzettel regieren auch hier die Welt. Am 6. November werden sich mithin zwei Anschauungen, ja zwei Zeit¬ alter gegenüberstelln. Die Republik von 1800 wird gegen das Imperium von 1900 kämpfen. I. Hofmann Maßgebliches und Unmaßgebliches Kalewipoeg noch einmal. Ur. 39 brachte eine Notiz über eine neue Übersetzung des esthnischen Volksepos Kalewipoeg. Als Poesie betrachtet ist es nicht gerade sehr eigentümlich, und als Literaturdenkmal jedenfalls auch nur von be¬ schränktem Interesse. Weil es aber für den Kreis, auf den die Ausgabe zunächst berechnet war, von Wert ist, so besprach ich es freundlich und so, daß wohl der Eindruck getroffen sein wird, den ein Durchschnittsleser bekommt, wenn er sich dnrch die zwanzig Gesänge durchgelesen hat. Zur Andeutung des politischen und sozialen Hintergrunds der Dichtung für unsre Leser hatte ich einige Sätze über Esthen, Russen und Ballen vorausgeschickt in der Kürze, die mir der Bedeutung des Gegen¬ stands angemessen schien. Sie haben inzwischen einen baltischen Mitarbeiter der „Kreuzzeitung" zu einem durch zwei Nummern gehenden Aufsatz angeregt mit der Überschrift: Die Grenzboten und die Ballen. Nachdem den Grenzboten im allgemeinen ein Zeugnis ihres Wohlverhaltens ausgestellt worden ist, wird Klage geführt, daß sie neuerdings allerlei Mitarbeitern erlaubt hatten, auf die Ballen zu' „schießen" in keltischer, esthnischer oder Plumvdemv- kratischer Art. Eigentlich sei zwar für diese kenntnislosen und kurzsichtigen Leute eine Kritik seitens der Kreuzzeitung eine zu hohe Ehre, aber ein Herr A. P. (so zeichne ich meistens meine Grenzboteubeitrcige) müsse doch etwas näher untersucht werden. „Er schließt sich mit den Reichsdeutschen als Wir zusammen. Er wird also wohl in Deutschland leben. Daraus folgt noch uicht, daß er Deutscher von Herkunft und Geblüt ist. ... Der Ton, den er anschlägt, ist merkwürdig undeutsch, verrät aber doch indirekt deutsche Abkunft." — Jedenfalls also ein vielsagender Ton, und ein mysteriöser Mann, dieser A. P. Anstatt sich aber mit ihm näher einzulassen, trägt der Verfasser seinen Lesern ausführlich die Geschichte seines Landes vor in der korrekt baltischen Auffassung, die man öfters gehört hat, und die dadurch, daß sie möglichst oft wiederholt wird, wohl nicht gerade an Überzeugungskraft ge¬ winnt. Er lehnt jede Verschuldung seiner Landsleute gegen die Esthen ab, obwohl

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/320
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/320>, abgerufen am 24.05.2024.