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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Erlaß oder Stundung?

Wenn er bei Kräften wäre und Aussichten hätte, und daß von Trunksucht in
dem bei uns gebräuchlichen Sinne beim russischen Volke keine Rede sei. Der
russische Bauer geht nicht ins Wirtshaus -- viele Dörfer haben gar keine
Wirtshäuser --, um sich beim Glase zu unterhalten. Für gewöhnlich trinkt
er gar nichts, weder Branntwein -- Bier und Wein giebts nicht -- noch
Thee (nur die Tataren trinken Thee). Hat er an einem Feiertage Geld, so
kauft er sich Schnaps und gießt ihn wie Wasser hinunter, bis er bewußtlos
umfällt. Dagegen leiden die höhern Stände, die Geld haben und täglich
Branntwein kaufen können, an Trunksucht, weil das Leben im Innern Ru߬
lands schlechterdings gar keine Gelegenheit und Mittel zu edlerer Zerstreuung
und Erholung gewährt; die Popen, die Arzte, die Beamten saufen mehr oder
weniger. Die meisten Ärzte, sagt Lehmann, sind vortrefflich, aber nachmittags
sind manche von ihnen nicht mehr recht zuverläßlich. Daraus erklärt sich das
Verhalten eines Stnnowoj Pristaw (das Amt eines solchen soll ungefähr dem
eines preußischen Landrath entsprechen), mit dem die Reisenden ein paar Tage
verkehrten; wo immer man zusammensaß, rührte er kein Glas an, während
alle andern tranken. Die Fremden sind ihm verdächtig erschienen, er will sie
beobachten, und er weiß, daß es mit der Beobachtungsfähigkeit vorbei sein
wird, wenn er auch nur einen Schluck gekostet hat.

(Schluß folgt)




Erlaß oder Stundung?
von einem Universitcitsprofcssor

>le preußische Unterrichtsbehörde steht vor der Entscheidung einer
Frage, die gleicherweise für die Dozenten wie für die Männer,
die von der Universität aus in die verschiedensten Berufsthätig¬
keiten eintreten, von größter Wichtigkeit ist.

Es versteht sich von selbst, daß tüchtigen Studierenden, die
oder deren Väter wenig bemittelt oder unbemittelt sind, eine Erleichterung
während der Studienzeit geschafft wird. Stipendien und Befreiung irgend
welcher Art von den Honoraren sind die Wege, auf denen dies geschieht. Leider
ist keine Universität so gestellt, daß die vorhandnen Stipendien auch nur an¬
nähernd ausreichten. Die schwebende Frage ist die: Soll man den wirklich
bedürftigen und fleißigen Studierenden die Honorare gänzlich erlassen, oder
soll einer größern Zahl der Studenten, auch wenn sie weniger bedürftig sind,
ein Aufschub der Honorarzahlung (Stundung) bewilligt werden?

Betrachten wir zuerst die Frage vom Standpunkt der Studierenden aus.


Erlaß oder Stundung?

Wenn er bei Kräften wäre und Aussichten hätte, und daß von Trunksucht in
dem bei uns gebräuchlichen Sinne beim russischen Volke keine Rede sei. Der
russische Bauer geht nicht ins Wirtshaus — viele Dörfer haben gar keine
Wirtshäuser —, um sich beim Glase zu unterhalten. Für gewöhnlich trinkt
er gar nichts, weder Branntwein — Bier und Wein giebts nicht — noch
Thee (nur die Tataren trinken Thee). Hat er an einem Feiertage Geld, so
kauft er sich Schnaps und gießt ihn wie Wasser hinunter, bis er bewußtlos
umfällt. Dagegen leiden die höhern Stände, die Geld haben und täglich
Branntwein kaufen können, an Trunksucht, weil das Leben im Innern Ru߬
lands schlechterdings gar keine Gelegenheit und Mittel zu edlerer Zerstreuung
und Erholung gewährt; die Popen, die Arzte, die Beamten saufen mehr oder
weniger. Die meisten Ärzte, sagt Lehmann, sind vortrefflich, aber nachmittags
sind manche von ihnen nicht mehr recht zuverläßlich. Daraus erklärt sich das
Verhalten eines Stnnowoj Pristaw (das Amt eines solchen soll ungefähr dem
eines preußischen Landrath entsprechen), mit dem die Reisenden ein paar Tage
verkehrten; wo immer man zusammensaß, rührte er kein Glas an, während
alle andern tranken. Die Fremden sind ihm verdächtig erschienen, er will sie
beobachten, und er weiß, daß es mit der Beobachtungsfähigkeit vorbei sein
wird, wenn er auch nur einen Schluck gekostet hat.

(Schluß folgt)




Erlaß oder Stundung?
von einem Universitcitsprofcssor

>le preußische Unterrichtsbehörde steht vor der Entscheidung einer
Frage, die gleicherweise für die Dozenten wie für die Männer,
die von der Universität aus in die verschiedensten Berufsthätig¬
keiten eintreten, von größter Wichtigkeit ist.

Es versteht sich von selbst, daß tüchtigen Studierenden, die
oder deren Väter wenig bemittelt oder unbemittelt sind, eine Erleichterung
während der Studienzeit geschafft wird. Stipendien und Befreiung irgend
welcher Art von den Honoraren sind die Wege, auf denen dies geschieht. Leider
ist keine Universität so gestellt, daß die vorhandnen Stipendien auch nur an¬
nähernd ausreichten. Die schwebende Frage ist die: Soll man den wirklich
bedürftigen und fleißigen Studierenden die Honorare gänzlich erlassen, oder
soll einer größern Zahl der Studenten, auch wenn sie weniger bedürftig sind,
ein Aufschub der Honorarzahlung (Stundung) bewilligt werden?

Betrachten wir zuerst die Frage vom Standpunkt der Studierenden aus.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/505>, abgerufen am 24.05.2024.