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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Die russischen Hungersnöte

Grundbesitz loszuschlagen, während städtische Kapitalisten wenig Lust bezeugen,
ihn zu erwerben, da unter den beschriebnen Umständen schon Landwirte von
Fach Mühe genug haben würden, einen entsprechenden Ertrag herauszuschlagen.
Und das Fehlen aller Industrie in den Ackerbaubezirken nimmt den Bauern
die Möglichkeit, den Ausfall ihrer Ernten durch den Verdienst aus gewerblicher
Arbeit zu decken, zu der sie in den langen Wintermonaten Zeit genug haben
würden. Sie machen sich auf die Wanderschaft, um Arbeit zu suchen, aber
wenn sie an einem Jndustrieort oder Hafen angekommen sind, zeigt es sich,
daß sie, durch Hunger entkräftet, nichts langen und erst aufgefüttert werdeu
müßten, um brauchbar zu werden.

Den einzigen Nebenverdienst hatten ihnen bis vor kurzem noch die Lohn¬
fuhren gewährt. Diese hören natürlich aus, wenn sie keine Pferde mehr haben,
und auch die Gelegenheit vermindert sich mit dem Getreidehandel, der seit dem
Beginn der Mißernten an den Hafenplätzen der Wolga und Kama immer mehr
zusammenschrumpft. "Eine allgemeine Krisis unter den Wolgarcedereien wäre
schon längst allsgebrochen, wenn nicht die aufblühende Petroleumindustrie des
Kaukasus von Astrachan aus einen gewissen Ersatz für die schwindenden Ge¬
treidefrachten geboten hätte." Und diese Industrie gewährt ja auch einigen
tausend verarmten Bauern Arbeit, aber freilich, was für Arbeit, und um welchen
Lohn! Und anstatt daß der Verkehr, was er unter normalen Verhältnissen
thut, Land und Volk bereicherte, beschleunigt er, soweit er vorhanden ist, aus
der russischen Schwarzerde die Verarmung. "Wovon lebt der große Handels¬
verkehr der gewaltigen Wolga? Vom Bauer! Es verkehren ungefähr zwei¬
tausend Dampfschiffe auf der Wolga. Sie alle haben dem Bauer nichts ge¬
bracht, aber sie dienten dazu, Jahr für Jahr in großem Massen das Hab und
Gut des Bauern, schließlich selbst die Grundlagen seiner Existenz fortzuschaffen.
Sein Getreide, seine Wälder, seine Viehherden, alles wurde in diese schwim¬
menden Ungetüme verladen und in weite Meere abgeführt. Diese Tausende
von Schiffen waren vom Kapital hineingeschickt, die Schätze des Landes
herauszuholen, haben zuletzt selbst die Nührkraft des Bodens und die Feuchtig¬
keit des Waldes geholt und lassen jetzt den ruinierten Bauern inmitten einer
Wüstenei zurück, die von der Sonne verbrannt und vom Ostwinde mit Sand
überschüttet wird." Wer dächte da nicht an unser Ostelbien, das ja glück¬
licherweise von einem solchen Zustande sehr weit entfernt ist, aber immerhin
eine gewisse Ähnlichkeit mit Rußland zeigt; es sind ja dieselben Ursachen,
die hier wie dort wirken, nur daß unser kleiner Ausläufer der großen sarma-
tischen Ebene der industriellen Kultur und dem Verkehr viel leichter zugänglich
und durch eine gute Staatsverwaltung vor verderblichen Einflüssen besser ge¬
schützt ist.

Auf die Frage, ob nicht vielleicht ein bedeutender Teil der Schuld des
Elends auf die Faulheit und Trunksucht des russischen Bauern fällt, giebt
unser Buch die Antwort, daß freilich der Bauer des Huugergebiets uicht der
beste Arbeiter sei, daß man aber nicht wissen könne, was er leisten würde,


Die russischen Hungersnöte

Grundbesitz loszuschlagen, während städtische Kapitalisten wenig Lust bezeugen,
ihn zu erwerben, da unter den beschriebnen Umständen schon Landwirte von
Fach Mühe genug haben würden, einen entsprechenden Ertrag herauszuschlagen.
Und das Fehlen aller Industrie in den Ackerbaubezirken nimmt den Bauern
die Möglichkeit, den Ausfall ihrer Ernten durch den Verdienst aus gewerblicher
Arbeit zu decken, zu der sie in den langen Wintermonaten Zeit genug haben
würden. Sie machen sich auf die Wanderschaft, um Arbeit zu suchen, aber
wenn sie an einem Jndustrieort oder Hafen angekommen sind, zeigt es sich,
daß sie, durch Hunger entkräftet, nichts langen und erst aufgefüttert werdeu
müßten, um brauchbar zu werden.

Den einzigen Nebenverdienst hatten ihnen bis vor kurzem noch die Lohn¬
fuhren gewährt. Diese hören natürlich aus, wenn sie keine Pferde mehr haben,
und auch die Gelegenheit vermindert sich mit dem Getreidehandel, der seit dem
Beginn der Mißernten an den Hafenplätzen der Wolga und Kama immer mehr
zusammenschrumpft. „Eine allgemeine Krisis unter den Wolgarcedereien wäre
schon längst allsgebrochen, wenn nicht die aufblühende Petroleumindustrie des
Kaukasus von Astrachan aus einen gewissen Ersatz für die schwindenden Ge¬
treidefrachten geboten hätte." Und diese Industrie gewährt ja auch einigen
tausend verarmten Bauern Arbeit, aber freilich, was für Arbeit, und um welchen
Lohn! Und anstatt daß der Verkehr, was er unter normalen Verhältnissen
thut, Land und Volk bereicherte, beschleunigt er, soweit er vorhanden ist, aus
der russischen Schwarzerde die Verarmung. „Wovon lebt der große Handels¬
verkehr der gewaltigen Wolga? Vom Bauer! Es verkehren ungefähr zwei¬
tausend Dampfschiffe auf der Wolga. Sie alle haben dem Bauer nichts ge¬
bracht, aber sie dienten dazu, Jahr für Jahr in großem Massen das Hab und
Gut des Bauern, schließlich selbst die Grundlagen seiner Existenz fortzuschaffen.
Sein Getreide, seine Wälder, seine Viehherden, alles wurde in diese schwim¬
menden Ungetüme verladen und in weite Meere abgeführt. Diese Tausende
von Schiffen waren vom Kapital hineingeschickt, die Schätze des Landes
herauszuholen, haben zuletzt selbst die Nührkraft des Bodens und die Feuchtig¬
keit des Waldes geholt und lassen jetzt den ruinierten Bauern inmitten einer
Wüstenei zurück, die von der Sonne verbrannt und vom Ostwinde mit Sand
überschüttet wird." Wer dächte da nicht an unser Ostelbien, das ja glück¬
licherweise von einem solchen Zustande sehr weit entfernt ist, aber immerhin
eine gewisse Ähnlichkeit mit Rußland zeigt; es sind ja dieselben Ursachen,
die hier wie dort wirken, nur daß unser kleiner Ausläufer der großen sarma-
tischen Ebene der industriellen Kultur und dem Verkehr viel leichter zugänglich
und durch eine gute Staatsverwaltung vor verderblichen Einflüssen besser ge¬
schützt ist.

Auf die Frage, ob nicht vielleicht ein bedeutender Teil der Schuld des
Elends auf die Faulheit und Trunksucht des russischen Bauern fällt, giebt
unser Buch die Antwort, daß freilich der Bauer des Huugergebiets uicht der
beste Arbeiter sei, daß man aber nicht wissen könne, was er leisten würde,


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[0504] Die russischen Hungersnöte Grundbesitz loszuschlagen, während städtische Kapitalisten wenig Lust bezeugen, ihn zu erwerben, da unter den beschriebnen Umständen schon Landwirte von Fach Mühe genug haben würden, einen entsprechenden Ertrag herauszuschlagen. Und das Fehlen aller Industrie in den Ackerbaubezirken nimmt den Bauern die Möglichkeit, den Ausfall ihrer Ernten durch den Verdienst aus gewerblicher Arbeit zu decken, zu der sie in den langen Wintermonaten Zeit genug haben würden. Sie machen sich auf die Wanderschaft, um Arbeit zu suchen, aber wenn sie an einem Jndustrieort oder Hafen angekommen sind, zeigt es sich, daß sie, durch Hunger entkräftet, nichts langen und erst aufgefüttert werdeu müßten, um brauchbar zu werden. Den einzigen Nebenverdienst hatten ihnen bis vor kurzem noch die Lohn¬ fuhren gewährt. Diese hören natürlich aus, wenn sie keine Pferde mehr haben, und auch die Gelegenheit vermindert sich mit dem Getreidehandel, der seit dem Beginn der Mißernten an den Hafenplätzen der Wolga und Kama immer mehr zusammenschrumpft. „Eine allgemeine Krisis unter den Wolgarcedereien wäre schon längst allsgebrochen, wenn nicht die aufblühende Petroleumindustrie des Kaukasus von Astrachan aus einen gewissen Ersatz für die schwindenden Ge¬ treidefrachten geboten hätte." Und diese Industrie gewährt ja auch einigen tausend verarmten Bauern Arbeit, aber freilich, was für Arbeit, und um welchen Lohn! Und anstatt daß der Verkehr, was er unter normalen Verhältnissen thut, Land und Volk bereicherte, beschleunigt er, soweit er vorhanden ist, aus der russischen Schwarzerde die Verarmung. „Wovon lebt der große Handels¬ verkehr der gewaltigen Wolga? Vom Bauer! Es verkehren ungefähr zwei¬ tausend Dampfschiffe auf der Wolga. Sie alle haben dem Bauer nichts ge¬ bracht, aber sie dienten dazu, Jahr für Jahr in großem Massen das Hab und Gut des Bauern, schließlich selbst die Grundlagen seiner Existenz fortzuschaffen. Sein Getreide, seine Wälder, seine Viehherden, alles wurde in diese schwim¬ menden Ungetüme verladen und in weite Meere abgeführt. Diese Tausende von Schiffen waren vom Kapital hineingeschickt, die Schätze des Landes herauszuholen, haben zuletzt selbst die Nührkraft des Bodens und die Feuchtig¬ keit des Waldes geholt und lassen jetzt den ruinierten Bauern inmitten einer Wüstenei zurück, die von der Sonne verbrannt und vom Ostwinde mit Sand überschüttet wird." Wer dächte da nicht an unser Ostelbien, das ja glück¬ licherweise von einem solchen Zustande sehr weit entfernt ist, aber immerhin eine gewisse Ähnlichkeit mit Rußland zeigt; es sind ja dieselben Ursachen, die hier wie dort wirken, nur daß unser kleiner Ausläufer der großen sarma- tischen Ebene der industriellen Kultur und dem Verkehr viel leichter zugänglich und durch eine gute Staatsverwaltung vor verderblichen Einflüssen besser ge¬ schützt ist. Auf die Frage, ob nicht vielleicht ein bedeutender Teil der Schuld des Elends auf die Faulheit und Trunksucht des russischen Bauern fällt, giebt unser Buch die Antwort, daß freilich der Bauer des Huugergebiets uicht der beste Arbeiter sei, daß man aber nicht wissen könne, was er leisten würde,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/504>, abgerufen am 16.06.2024.