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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Kindersprache und Sprachgeschichte

anziehende, bald abstoßende Volksart, die der antiken doch so nahe steht, kennen
zu lernen. Mir den wissenschaftlich gebildeten Deutschen liegt darin der be¬
sondre Reiz einer italienischen Reise.




Kindersprache und Sprachgeschichte
Friedrich Schroeder von (Schluß)

le Ausdrücke der Kindersprache, apu und haha, bezeichnen, so
vielseitig sie sind, schon eine höhere Stufe der Vegrifsscntwickluug.
Sie sind schon Gattungsnamen. Die ersten Wörter des Kindes
haben aber eine andre Vcdentnng: sie sind Namen für Einzelnes,
Eigennamen. Tui nennt das Kind zunächst nnr einen, nämlich
seinen eignen Stuhl, und auch haha schlafen bedeutet wohl zunächst nur den
eignen Zustand. Aber sehr bald fallen ihm die übereinstimmenden Züge bei
Dingen und Vorgängen derselben Art auf, und nun dehnt es den Namen, der
nur einem Einzelnen znlnm, auf die ganze Gattung aus; nnn nennt es z. B.
auch andre Stühle Tut, braucht das Wort haha auch vom Schlafen andrer n.s.f.
Denselben Stufengang hat auch die Sprache der Menschheit durchmachen müssen.
Ja noch heute giebt es Sprachen, die die höchste Stufe nicht erklommen haben.
Gattungsnamen fehlen zwar auch ihnen nicht völlig, aber bis zur Bezeichnung
der höhern Gattungen sind sie nicht vorgedrungen. In der Sprache eines
solchen Naturvolks kann man zwar sagen "mein Kopf," aber nicht "der Kopf,"
andre Sprachen haben wohl besondre Wörter für das Fischen der verschiednen
Meertiere, aber keines für fischen. Die Fähigkeit zu abstrahieren ist eben nur
sehr mangelhaft entwickelt.

Und noch eine andre Bemerkung ist an jene Kinderwörter anzuknüpfen.
Sie sind zunächst Satzwörter, sie bezeichnen jedesmal einen ganzen Gedanken,
der sich auf die genannte Vorstellung bezieht, in der Regel ein Begehren,
später anch ein Urteil. So heißt apn z. B.: ich Null Kuchen haben, tut! ich
will auf den Stuhl gehoben werden, oder mein Stuhl soll an den Tisch, habn
ich möchte schlafen gehn, später kann dann haha anch bedeuten: er schläft, tut:
hier ist ein Stuhl. Die Bedeutung ergiebt sich aus dem Tone, wie die Wörter
gesprochen, und aus den Mienen, Blicken und Gebärden, von denen sie be¬
reitet werden. Damit sind diese Kinderwörter also den unvollkommnen Sätzen
an die Seite zu stellen, die wir selbst nicht selten bilden: zahlen! Hilfe! ein¬
steigen! Diebe! Auch hier fehlt das Zeichen für deu Wunsch, den Befehl, die
Aussage, wie wir es in unsrer Personalendnng haben. Ein Ausdrucksmittel,


Kindersprache und Sprachgeschichte

anziehende, bald abstoßende Volksart, die der antiken doch so nahe steht, kennen
zu lernen. Mir den wissenschaftlich gebildeten Deutschen liegt darin der be¬
sondre Reiz einer italienischen Reise.




Kindersprache und Sprachgeschichte
Friedrich Schroeder von (Schluß)

le Ausdrücke der Kindersprache, apu und haha, bezeichnen, so
vielseitig sie sind, schon eine höhere Stufe der Vegrifsscntwickluug.
Sie sind schon Gattungsnamen. Die ersten Wörter des Kindes
haben aber eine andre Vcdentnng: sie sind Namen für Einzelnes,
Eigennamen. Tui nennt das Kind zunächst nnr einen, nämlich
seinen eignen Stuhl, und auch haha schlafen bedeutet wohl zunächst nur den
eignen Zustand. Aber sehr bald fallen ihm die übereinstimmenden Züge bei
Dingen und Vorgängen derselben Art auf, und nun dehnt es den Namen, der
nur einem Einzelnen znlnm, auf die ganze Gattung aus; nnn nennt es z. B.
auch andre Stühle Tut, braucht das Wort haha auch vom Schlafen andrer n.s.f.
Denselben Stufengang hat auch die Sprache der Menschheit durchmachen müssen.
Ja noch heute giebt es Sprachen, die die höchste Stufe nicht erklommen haben.
Gattungsnamen fehlen zwar auch ihnen nicht völlig, aber bis zur Bezeichnung
der höhern Gattungen sind sie nicht vorgedrungen. In der Sprache eines
solchen Naturvolks kann man zwar sagen „mein Kopf," aber nicht „der Kopf,"
andre Sprachen haben wohl besondre Wörter für das Fischen der verschiednen
Meertiere, aber keines für fischen. Die Fähigkeit zu abstrahieren ist eben nur
sehr mangelhaft entwickelt.

Und noch eine andre Bemerkung ist an jene Kinderwörter anzuknüpfen.
Sie sind zunächst Satzwörter, sie bezeichnen jedesmal einen ganzen Gedanken,
der sich auf die genannte Vorstellung bezieht, in der Regel ein Begehren,
später anch ein Urteil. So heißt apn z. B.: ich Null Kuchen haben, tut! ich
will auf den Stuhl gehoben werden, oder mein Stuhl soll an den Tisch, habn
ich möchte schlafen gehn, später kann dann haha anch bedeuten: er schläft, tut:
hier ist ein Stuhl. Die Bedeutung ergiebt sich aus dem Tone, wie die Wörter
gesprochen, und aus den Mienen, Blicken und Gebärden, von denen sie be¬
reitet werden. Damit sind diese Kinderwörter also den unvollkommnen Sätzen
an die Seite zu stellen, die wir selbst nicht selten bilden: zahlen! Hilfe! ein¬
steigen! Diebe! Auch hier fehlt das Zeichen für deu Wunsch, den Befehl, die
Aussage, wie wir es in unsrer Personalendnng haben. Ein Ausdrucksmittel,


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[0463] Kindersprache und Sprachgeschichte anziehende, bald abstoßende Volksart, die der antiken doch so nahe steht, kennen zu lernen. Mir den wissenschaftlich gebildeten Deutschen liegt darin der be¬ sondre Reiz einer italienischen Reise. Kindersprache und Sprachgeschichte Friedrich Schroeder von (Schluß) le Ausdrücke der Kindersprache, apu und haha, bezeichnen, so vielseitig sie sind, schon eine höhere Stufe der Vegrifsscntwickluug. Sie sind schon Gattungsnamen. Die ersten Wörter des Kindes haben aber eine andre Vcdentnng: sie sind Namen für Einzelnes, Eigennamen. Tui nennt das Kind zunächst nnr einen, nämlich seinen eignen Stuhl, und auch haha schlafen bedeutet wohl zunächst nur den eignen Zustand. Aber sehr bald fallen ihm die übereinstimmenden Züge bei Dingen und Vorgängen derselben Art auf, und nun dehnt es den Namen, der nur einem Einzelnen znlnm, auf die ganze Gattung aus; nnn nennt es z. B. auch andre Stühle Tut, braucht das Wort haha auch vom Schlafen andrer n.s.f. Denselben Stufengang hat auch die Sprache der Menschheit durchmachen müssen. Ja noch heute giebt es Sprachen, die die höchste Stufe nicht erklommen haben. Gattungsnamen fehlen zwar auch ihnen nicht völlig, aber bis zur Bezeichnung der höhern Gattungen sind sie nicht vorgedrungen. In der Sprache eines solchen Naturvolks kann man zwar sagen „mein Kopf," aber nicht „der Kopf," andre Sprachen haben wohl besondre Wörter für das Fischen der verschiednen Meertiere, aber keines für fischen. Die Fähigkeit zu abstrahieren ist eben nur sehr mangelhaft entwickelt. Und noch eine andre Bemerkung ist an jene Kinderwörter anzuknüpfen. Sie sind zunächst Satzwörter, sie bezeichnen jedesmal einen ganzen Gedanken, der sich auf die genannte Vorstellung bezieht, in der Regel ein Begehren, später anch ein Urteil. So heißt apn z. B.: ich Null Kuchen haben, tut! ich will auf den Stuhl gehoben werden, oder mein Stuhl soll an den Tisch, habn ich möchte schlafen gehn, später kann dann haha anch bedeuten: er schläft, tut: hier ist ein Stuhl. Die Bedeutung ergiebt sich aus dem Tone, wie die Wörter gesprochen, und aus den Mienen, Blicken und Gebärden, von denen sie be¬ reitet werden. Damit sind diese Kinderwörter also den unvollkommnen Sätzen an die Seite zu stellen, die wir selbst nicht selten bilden: zahlen! Hilfe! ein¬ steigen! Diebe! Auch hier fehlt das Zeichen für deu Wunsch, den Befehl, die Aussage, wie wir es in unsrer Personalendnng haben. Ein Ausdrucksmittel,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/463>, abgerufen am 05.05.2024.