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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich List

verfahrnen Wage" unsers höhern Schulwesens wieder ans den rechten Weg
zu bringen. Dann wird an Stelle des unseligen häuslichen Haders, der mit-
unter dein Feinde aller wahren und gründlichen Bildung, dem Dilettantismus,
das Heft der Entscheidung in die Hand zu spielen drohte, ein neidloser Wett¬
bewerb der verschiednen Schulen treten können, ein ehrlicher ersprießlicher Lauf,
zwar auf verschiednen Wegen, aber nach gleichen oder doch gleichwertigen Zielen.
Geschieht das, so gehn bis zur nächsten Schulreform hoffentlich nicht zehn,
sondern mindestens zwanzig Jahre ins Land! Denn auch das Unterrichts-
wesen als Ganzes bedarf dessen, was heute mehr als je aller Jugenderziehung
und Jugendbildung not thut: Ruhe zur Reife. Im Gegensatz zu den Reformern,
die die Lchrplane unsrer Schulen nach dem Grundsatze zurecht stutzen möchten,
daß die Jugend das Erlernte so schnell wie möglich praktisch verwenden könne,
und daß alles andre eigentlich ein altfränkischer Ballast sei, spiegelt sich uns
die Aufgabe und die Wirkung einer gesunden Erziehung in dem Bilde der
Thalsperre, in der sich die jungen Wasser sammeln und klären, sodnß sie das
ganze Jahr, anch in den Monaten der Dürre, vorhalten und nicht gleich im
Frühling verrinnen.




Friedrich List
3

cum ich mich nun zur Beantwortung der am Schluß des ersten
Artikels aufgeworfnen Frage wende, ob unser gegenwärtiger Zu¬
stand dem Ideale Lifts entspricht, und was weiter werden soll,
so verpflichte ich mich eigentlich, Gegenwart und Zukunft unsrer
Volkswirtschaft darzustellen. Da das ans zehn Seiten nicht
möglich ist, so muß ich mich darauf beschränken, die Themata
aufzuzählen, die ausgeführt werden müßten. Ausgeführt sind sie ja übrigens
schon tausendfach, und werden uoch täglich ausgeführt, wobei freilich noch
zweifelhaft bleibt, ob durch all die Rederei und Schreiberei die Sache den
Maßgebenden klarer oder dunkler wird.

Zunächst: reicher sind wir durch die Industrie geworden, daran ist kein
Zweifel. Die moderne Technik erzeugt automatisch Reichtum, denn sie macht
die Arbeit von Tag zu Tag produktiver, und die wachsende Produktenfülle
bedeutet eben wachsenden Reichtum. Es fragt sich uur, ob die Verteilung des
Reichtums und die von der Verteilung abhängige Produktion gesund genannt
werden kann, ob nicht die allzu ungleiche Verteilung bewirkt, daß von den
überflüssigen Gütern zu viel, von den notwendigen zu wenig produziert wird,
und daß die von oben her verbreiteten Luxusmodeu unverständige Formen des
Konsums erzeugen, die auf die Produktion zurückwirkend diese'noch unzweck¬
mäßiger machen, als sie so schon sein würde. Das fuhrt in drei heute wohl
angebaute Gedankenkreise, die List fremd waren: den der Sozialisten und des


Friedrich List

verfahrnen Wage» unsers höhern Schulwesens wieder ans den rechten Weg
zu bringen. Dann wird an Stelle des unseligen häuslichen Haders, der mit-
unter dein Feinde aller wahren und gründlichen Bildung, dem Dilettantismus,
das Heft der Entscheidung in die Hand zu spielen drohte, ein neidloser Wett¬
bewerb der verschiednen Schulen treten können, ein ehrlicher ersprießlicher Lauf,
zwar auf verschiednen Wegen, aber nach gleichen oder doch gleichwertigen Zielen.
Geschieht das, so gehn bis zur nächsten Schulreform hoffentlich nicht zehn,
sondern mindestens zwanzig Jahre ins Land! Denn auch das Unterrichts-
wesen als Ganzes bedarf dessen, was heute mehr als je aller Jugenderziehung
und Jugendbildung not thut: Ruhe zur Reife. Im Gegensatz zu den Reformern,
die die Lchrplane unsrer Schulen nach dem Grundsatze zurecht stutzen möchten,
daß die Jugend das Erlernte so schnell wie möglich praktisch verwenden könne,
und daß alles andre eigentlich ein altfränkischer Ballast sei, spiegelt sich uns
die Aufgabe und die Wirkung einer gesunden Erziehung in dem Bilde der
Thalsperre, in der sich die jungen Wasser sammeln und klären, sodnß sie das
ganze Jahr, anch in den Monaten der Dürre, vorhalten und nicht gleich im
Frühling verrinnen.




Friedrich List
3

cum ich mich nun zur Beantwortung der am Schluß des ersten
Artikels aufgeworfnen Frage wende, ob unser gegenwärtiger Zu¬
stand dem Ideale Lifts entspricht, und was weiter werden soll,
so verpflichte ich mich eigentlich, Gegenwart und Zukunft unsrer
Volkswirtschaft darzustellen. Da das ans zehn Seiten nicht
möglich ist, so muß ich mich darauf beschränken, die Themata
aufzuzählen, die ausgeführt werden müßten. Ausgeführt sind sie ja übrigens
schon tausendfach, und werden uoch täglich ausgeführt, wobei freilich noch
zweifelhaft bleibt, ob durch all die Rederei und Schreiberei die Sache den
Maßgebenden klarer oder dunkler wird.

Zunächst: reicher sind wir durch die Industrie geworden, daran ist kein
Zweifel. Die moderne Technik erzeugt automatisch Reichtum, denn sie macht
die Arbeit von Tag zu Tag produktiver, und die wachsende Produktenfülle
bedeutet eben wachsenden Reichtum. Es fragt sich uur, ob die Verteilung des
Reichtums und die von der Verteilung abhängige Produktion gesund genannt
werden kann, ob nicht die allzu ungleiche Verteilung bewirkt, daß von den
überflüssigen Gütern zu viel, von den notwendigen zu wenig produziert wird,
und daß die von oben her verbreiteten Luxusmodeu unverständige Formen des
Konsums erzeugen, die auf die Produktion zurückwirkend diese'noch unzweck¬
mäßiger machen, als sie so schon sein würde. Das fuhrt in drei heute wohl
angebaute Gedankenkreise, die List fremd waren: den der Sozialisten und des


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[0619] Friedrich List verfahrnen Wage» unsers höhern Schulwesens wieder ans den rechten Weg zu bringen. Dann wird an Stelle des unseligen häuslichen Haders, der mit- unter dein Feinde aller wahren und gründlichen Bildung, dem Dilettantismus, das Heft der Entscheidung in die Hand zu spielen drohte, ein neidloser Wett¬ bewerb der verschiednen Schulen treten können, ein ehrlicher ersprießlicher Lauf, zwar auf verschiednen Wegen, aber nach gleichen oder doch gleichwertigen Zielen. Geschieht das, so gehn bis zur nächsten Schulreform hoffentlich nicht zehn, sondern mindestens zwanzig Jahre ins Land! Denn auch das Unterrichts- wesen als Ganzes bedarf dessen, was heute mehr als je aller Jugenderziehung und Jugendbildung not thut: Ruhe zur Reife. Im Gegensatz zu den Reformern, die die Lchrplane unsrer Schulen nach dem Grundsatze zurecht stutzen möchten, daß die Jugend das Erlernte so schnell wie möglich praktisch verwenden könne, und daß alles andre eigentlich ein altfränkischer Ballast sei, spiegelt sich uns die Aufgabe und die Wirkung einer gesunden Erziehung in dem Bilde der Thalsperre, in der sich die jungen Wasser sammeln und klären, sodnß sie das ganze Jahr, anch in den Monaten der Dürre, vorhalten und nicht gleich im Frühling verrinnen. Friedrich List 3 cum ich mich nun zur Beantwortung der am Schluß des ersten Artikels aufgeworfnen Frage wende, ob unser gegenwärtiger Zu¬ stand dem Ideale Lifts entspricht, und was weiter werden soll, so verpflichte ich mich eigentlich, Gegenwart und Zukunft unsrer Volkswirtschaft darzustellen. Da das ans zehn Seiten nicht möglich ist, so muß ich mich darauf beschränken, die Themata aufzuzählen, die ausgeführt werden müßten. Ausgeführt sind sie ja übrigens schon tausendfach, und werden uoch täglich ausgeführt, wobei freilich noch zweifelhaft bleibt, ob durch all die Rederei und Schreiberei die Sache den Maßgebenden klarer oder dunkler wird. Zunächst: reicher sind wir durch die Industrie geworden, daran ist kein Zweifel. Die moderne Technik erzeugt automatisch Reichtum, denn sie macht die Arbeit von Tag zu Tag produktiver, und die wachsende Produktenfülle bedeutet eben wachsenden Reichtum. Es fragt sich uur, ob die Verteilung des Reichtums und die von der Verteilung abhängige Produktion gesund genannt werden kann, ob nicht die allzu ungleiche Verteilung bewirkt, daß von den überflüssigen Gütern zu viel, von den notwendigen zu wenig produziert wird, und daß die von oben her verbreiteten Luxusmodeu unverständige Formen des Konsums erzeugen, die auf die Produktion zurückwirkend diese'noch unzweck¬ mäßiger machen, als sie so schon sein würde. Das fuhrt in drei heute wohl angebaute Gedankenkreise, die List fremd waren: den der Sozialisten und des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/619>, abgerufen am 05.05.2024.