Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Zurück zu Kant!
(Schluß)

as Apriori, d, h. nach dem Gesagten die ursprüngliche Ver¬
nünftigkeit des Menschen, die aus keiner Atombewegung und aus
keiner Entwicklung erklärt werden kann, die dem Menschen weder
angewöhnt noch angelernt oder sonstwie von außen zugeführt
wird, sondern die er bei der Geburt mitbringt als Fähigkeit zur
Benutzung und Beherrschung der Außenwelt, dieses Apriori erzwingt sich
natürlich auch an der Stelle Beachtung, wo die wunderbare Verflechtung
des Geistes in die Natur ihren eigentlichen Ort hat, bei der Betrachtung der
Gehirnthätigkeit. Auch hier besteht LiebmcmnS Hauptleistung darin, daß er
deutlich macht, was alles zu erklären wäre, wenn wir eine Erklärung hoffen
dürften. Er weist die materialistischen Erklärungsversuche -- wofern man nur
das Wort Materialismus nicht im gröbsten Sinne versteht -- keineswegs ab.
"Niemand kann zweien Herren dienen. Man kann nicht nach Wahrheit suchen
und doch zugleich im voraus bestimmen wollen, wohin der Weg führen soll,
wohin er nicht führen darf. Auf unsern Fall angewandt, ergiebt dies das
strenge Postulat: I^eiatk "Mi 8p6i'An?k voi od'outiAto, d. h.: Gebietet Schweige"
allen Gemütsbedürfnifsen und Herzensneigungen, allen egoistischen nud ethischen
Unsterblichkeitswünschen, der gemeinen Todesfurcht, dem Bedürfnis nach Wieder¬
vereinigung mit geliebten Verstorbnen, der Sehnsucht nach unendlicher mora¬
lischer Vervollkommnung, und wie die via äosiclöria alle heißen mögen! Laßt
sie sämtlich verstummen und öffnet euer Ohr allein der unerbittlichen Vernunft,
euer Auge allein dein unbestreitbaren Faktum!" Und nun zählt er die be¬
kannten Thatsachen auf, die zu beweisen scheinen, daß das Empfinden, das
Wollen und das Denken Gehirnfunktivnen seien. Dann aber stellt er die
Forderungen auf, die bei der Annahme der materialistischen Hypothese an den
Naturforscher gerichtet werden müssen: "Erkläre mir aus den physischen Be¬
schaffenheiten des Denkorgans, als da sind seine Struktur, anatomische Gliede¬
rung, chemische Zusammensetzung, physiologische Funktionsweise -- erkläre mir
aus den materiellen Eigenschaften, Zuständen, Veränderungen des großen Ge¬
hirns die intellektuellen Leistungen des Menschen!" Z. B., um Liebmanns
Forderung noch deutlicher zu machen: Sage mir, ob Phosphor oder Stickstoff
zugeführt werden muß, wenn statt des dummen ein kluger Gedanke, statt des
lieblosen Wunsches ein liebreicher, statt des Fuhrmanns Henschel eine Jphigeme




Zurück zu Kant!
(Schluß)

as Apriori, d, h. nach dem Gesagten die ursprüngliche Ver¬
nünftigkeit des Menschen, die aus keiner Atombewegung und aus
keiner Entwicklung erklärt werden kann, die dem Menschen weder
angewöhnt noch angelernt oder sonstwie von außen zugeführt
wird, sondern die er bei der Geburt mitbringt als Fähigkeit zur
Benutzung und Beherrschung der Außenwelt, dieses Apriori erzwingt sich
natürlich auch an der Stelle Beachtung, wo die wunderbare Verflechtung
des Geistes in die Natur ihren eigentlichen Ort hat, bei der Betrachtung der
Gehirnthätigkeit. Auch hier besteht LiebmcmnS Hauptleistung darin, daß er
deutlich macht, was alles zu erklären wäre, wenn wir eine Erklärung hoffen
dürften. Er weist die materialistischen Erklärungsversuche — wofern man nur
das Wort Materialismus nicht im gröbsten Sinne versteht — keineswegs ab.
„Niemand kann zweien Herren dienen. Man kann nicht nach Wahrheit suchen
und doch zugleich im voraus bestimmen wollen, wohin der Weg führen soll,
wohin er nicht führen darf. Auf unsern Fall angewandt, ergiebt dies das
strenge Postulat: I^eiatk »Mi 8p6i'An?k voi od'outiAto, d. h.: Gebietet Schweige«
allen Gemütsbedürfnifsen und Herzensneigungen, allen egoistischen nud ethischen
Unsterblichkeitswünschen, der gemeinen Todesfurcht, dem Bedürfnis nach Wieder¬
vereinigung mit geliebten Verstorbnen, der Sehnsucht nach unendlicher mora¬
lischer Vervollkommnung, und wie die via äosiclöria alle heißen mögen! Laßt
sie sämtlich verstummen und öffnet euer Ohr allein der unerbittlichen Vernunft,
euer Auge allein dein unbestreitbaren Faktum!" Und nun zählt er die be¬
kannten Thatsachen auf, die zu beweisen scheinen, daß das Empfinden, das
Wollen und das Denken Gehirnfunktivnen seien. Dann aber stellt er die
Forderungen auf, die bei der Annahme der materialistischen Hypothese an den
Naturforscher gerichtet werden müssen: „Erkläre mir aus den physischen Be¬
schaffenheiten des Denkorgans, als da sind seine Struktur, anatomische Gliede¬
rung, chemische Zusammensetzung, physiologische Funktionsweise — erkläre mir
aus den materiellen Eigenschaften, Zuständen, Veränderungen des großen Ge¬
hirns die intellektuellen Leistungen des Menschen!" Z. B., um Liebmanns
Forderung noch deutlicher zu machen: Sage mir, ob Phosphor oder Stickstoff
zugeführt werden muß, wenn statt des dummen ein kluger Gedanke, statt des
lieblosen Wunsches ein liebreicher, statt des Fuhrmanns Henschel eine Jphigeme


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0069" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/234599"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341873_234529/figures/grenzboten_341873_234529_234599_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Zurück zu Kant!<lb/>
(Schluß) </head><lb/>
          <p xml:id="ID_180" next="#ID_181"> as Apriori, d, h. nach dem Gesagten die ursprüngliche Ver¬<lb/>
nünftigkeit des Menschen, die aus keiner Atombewegung und aus<lb/>
keiner Entwicklung erklärt werden kann, die dem Menschen weder<lb/>
angewöhnt noch angelernt oder sonstwie von außen zugeführt<lb/>
wird, sondern die er bei der Geburt mitbringt als Fähigkeit zur<lb/>
Benutzung und Beherrschung der Außenwelt, dieses Apriori erzwingt sich<lb/>
natürlich auch an der Stelle Beachtung, wo die wunderbare Verflechtung<lb/>
des Geistes in die Natur ihren eigentlichen Ort hat, bei der Betrachtung der<lb/>
Gehirnthätigkeit. Auch hier besteht LiebmcmnS Hauptleistung darin, daß er<lb/>
deutlich macht, was alles zu erklären wäre, wenn wir eine Erklärung hoffen<lb/>
dürften. Er weist die materialistischen Erklärungsversuche &#x2014; wofern man nur<lb/>
das Wort Materialismus nicht im gröbsten Sinne versteht &#x2014; keineswegs ab.<lb/>
&#x201E;Niemand kann zweien Herren dienen. Man kann nicht nach Wahrheit suchen<lb/>
und doch zugleich im voraus bestimmen wollen, wohin der Weg führen soll,<lb/>
wohin er nicht führen darf. Auf unsern Fall angewandt, ergiebt dies das<lb/>
strenge Postulat: I^eiatk »Mi 8p6i'An?k voi od'outiAto, d. h.: Gebietet Schweige«<lb/>
allen Gemütsbedürfnifsen und Herzensneigungen, allen egoistischen nud ethischen<lb/>
Unsterblichkeitswünschen, der gemeinen Todesfurcht, dem Bedürfnis nach Wieder¬<lb/>
vereinigung mit geliebten Verstorbnen, der Sehnsucht nach unendlicher mora¬<lb/>
lischer Vervollkommnung, und wie die via äosiclöria alle heißen mögen! Laßt<lb/>
sie sämtlich verstummen und öffnet euer Ohr allein der unerbittlichen Vernunft,<lb/>
euer Auge allein dein unbestreitbaren Faktum!" Und nun zählt er die be¬<lb/>
kannten Thatsachen auf, die zu beweisen scheinen, daß das Empfinden, das<lb/>
Wollen und das Denken Gehirnfunktivnen seien. Dann aber stellt er die<lb/>
Forderungen auf, die bei der Annahme der materialistischen Hypothese an den<lb/>
Naturforscher gerichtet werden müssen: &#x201E;Erkläre mir aus den physischen Be¬<lb/>
schaffenheiten des Denkorgans, als da sind seine Struktur, anatomische Gliede¬<lb/>
rung, chemische Zusammensetzung, physiologische Funktionsweise &#x2014; erkläre mir<lb/>
aus den materiellen Eigenschaften, Zuständen, Veränderungen des großen Ge¬<lb/>
hirns die intellektuellen Leistungen des Menschen!" Z. B., um Liebmanns<lb/>
Forderung noch deutlicher zu machen: Sage mir, ob Phosphor oder Stickstoff<lb/>
zugeführt werden muß, wenn statt des dummen ein kluger Gedanke, statt des<lb/>
lieblosen Wunsches ein liebreicher, statt des Fuhrmanns Henschel eine Jphigeme</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0069] [Abbildung] Zurück zu Kant! (Schluß) as Apriori, d, h. nach dem Gesagten die ursprüngliche Ver¬ nünftigkeit des Menschen, die aus keiner Atombewegung und aus keiner Entwicklung erklärt werden kann, die dem Menschen weder angewöhnt noch angelernt oder sonstwie von außen zugeführt wird, sondern die er bei der Geburt mitbringt als Fähigkeit zur Benutzung und Beherrschung der Außenwelt, dieses Apriori erzwingt sich natürlich auch an der Stelle Beachtung, wo die wunderbare Verflechtung des Geistes in die Natur ihren eigentlichen Ort hat, bei der Betrachtung der Gehirnthätigkeit. Auch hier besteht LiebmcmnS Hauptleistung darin, daß er deutlich macht, was alles zu erklären wäre, wenn wir eine Erklärung hoffen dürften. Er weist die materialistischen Erklärungsversuche — wofern man nur das Wort Materialismus nicht im gröbsten Sinne versteht — keineswegs ab. „Niemand kann zweien Herren dienen. Man kann nicht nach Wahrheit suchen und doch zugleich im voraus bestimmen wollen, wohin der Weg führen soll, wohin er nicht führen darf. Auf unsern Fall angewandt, ergiebt dies das strenge Postulat: I^eiatk »Mi 8p6i'An?k voi od'outiAto, d. h.: Gebietet Schweige« allen Gemütsbedürfnifsen und Herzensneigungen, allen egoistischen nud ethischen Unsterblichkeitswünschen, der gemeinen Todesfurcht, dem Bedürfnis nach Wieder¬ vereinigung mit geliebten Verstorbnen, der Sehnsucht nach unendlicher mora¬ lischer Vervollkommnung, und wie die via äosiclöria alle heißen mögen! Laßt sie sämtlich verstummen und öffnet euer Ohr allein der unerbittlichen Vernunft, euer Auge allein dein unbestreitbaren Faktum!" Und nun zählt er die be¬ kannten Thatsachen auf, die zu beweisen scheinen, daß das Empfinden, das Wollen und das Denken Gehirnfunktivnen seien. Dann aber stellt er die Forderungen auf, die bei der Annahme der materialistischen Hypothese an den Naturforscher gerichtet werden müssen: „Erkläre mir aus den physischen Be¬ schaffenheiten des Denkorgans, als da sind seine Struktur, anatomische Gliede¬ rung, chemische Zusammensetzung, physiologische Funktionsweise — erkläre mir aus den materiellen Eigenschaften, Zuständen, Veränderungen des großen Ge¬ hirns die intellektuellen Leistungen des Menschen!" Z. B., um Liebmanns Forderung noch deutlicher zu machen: Sage mir, ob Phosphor oder Stickstoff zugeführt werden muß, wenn statt des dummen ein kluger Gedanke, statt des lieblosen Wunsches ein liebreicher, statt des Fuhrmanns Henschel eine Jphigeme

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/69
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/69>, abgerufen am 05.05.2024.