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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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herauskommen soll, und wie der Phosphor mit der Weisheit, der Stickstoff
mit der Gesinnung und dem Kunstgeschmack zusammenhängt! Was haben nun
Physik, Chemie, Anatomie und Physiologie in der Beantwortung dieser Fragen
geleistet? So gut wie gar nichts, antwortet Liebmann. "Der Anatom und
Physiolog belehrt uns, daß die rätselhafte und höchst komplizierte "Frucht am
Stengel des Rückenmarks", insbesondre die graue Substanz des großen Gehirns
aus Millionen von Ganglienzellen besteht, die durch Nervenfasern untereinander
in mannigfachster Verbindung stehn, und daß dieses Nervenlabyrinth in unsrer
Hirnschale mit den Sinnesorganen durch die Sinnesnerven wie durch Tele-
graphendrähte kommuniziert. Der Physiker fügt hinzu, daß in den Nerven
galvanische Ströme zirkulieren. Der Chemiker findet, daß sich das Hirnfett
durch einen hohen Phosphorsänregehalt auszeichnet, was einen bekannten Hei߬
sporn zu dem Schluß begeistert hat: ohne Phosphor kein Gedanke! -- einem
Schluß, der auf gleicher Rangstufe steht mit dem Satze: ohne Zündhölzchen
kein Feuer. Nun frage ich, was nützt uns all das zur Erfüllung unsers
Postulats? Nichts!" Von den Funktionen des Auges und des Ohres könne
man sagen, daß sie bis auf einen gewissen Grad erklärlich und erklärt seien.
Jenes sei ein dioptrischer, dieses ein akustischer Apparat, von denen man ein¬
sehe, wie sie zur Fortpflanzung der Lichtstrahlen und der Schallwellen in das
Innere des Menschen dienten, und warum sie unentbehrlich seien, wenn auch
freilich die Hauptsache: das Empfinden von Licht und Schall, das mit Äther-
und Luftwellen keine Ähnlichkeit habe, unerklärt bleibe. Noch vollständiger
seien die rein mechanischen Leistungen der Lunge und des Herzens erklärt.
"Nun aber möchte ich gern wissen: Inwiefern trügt das Volumen, das ab¬
solute und das spezifische Gewicht, die Struktur und Textur, der Faltenreich¬
tum und der Fettgehalt eines menschlichen Gehirns zur Entstehung gerade der
Gedanken bei, die der glückliche oder unglückliche Inhaber dieses Gehirns hat?
Warum hat das Hirn des Hottentottenweibes keine Gvethegedankeu? Weil
es -- nicht Goethes Gehirn ist. Soviel wissen wir, mehr nicht. ^Gerade in
diesem Falle wissen wir doch noch etwas mehr, nämlich, daß ein Goethegehirn
nur bei der weißen Nasse und auf einer gewissen Kulturstufe vorkommen kann.^
Unsre materialistische Erklärung der geistigen Funktionen wetteifert mit dem
berühmten: ovium lÄvit clormirs, ".via sse in co viiws clormitiva." Freilich
kann nicht ohne Gehirn gedacht werden, aber -- haben die Gegner des Ma¬
terialismus schon vor fünfzig Jahren eingewandt -- ohne Geige kann auch
der Virtuos nicht geigen, und hier wird eben (bei Liebmann fehlt dieses zur
Vollständigkeit der Gedankenkette gehörige Glied) zweierlei gesucht: der Geiger
und die Art und Weise, wie ihm sein Instrument dient; das zweite kennen
wir nicht bloß bei der Geige, sondern, wie oben bemerkt wurde, auch
beim Ohr.

Soviel wiffen wir, daß den Gedankenreihen Hirnschwingungen entsprechen
müssen; aber mit der Unerklärbarkeit dieses Parallelismus und der Un¬
vergleichbarkeit der beiden parallelen Reihen ist der Gehalt unsers Gegen-


herauskommen soll, und wie der Phosphor mit der Weisheit, der Stickstoff
mit der Gesinnung und dem Kunstgeschmack zusammenhängt! Was haben nun
Physik, Chemie, Anatomie und Physiologie in der Beantwortung dieser Fragen
geleistet? So gut wie gar nichts, antwortet Liebmann. „Der Anatom und
Physiolog belehrt uns, daß die rätselhafte und höchst komplizierte »Frucht am
Stengel des Rückenmarks«, insbesondre die graue Substanz des großen Gehirns
aus Millionen von Ganglienzellen besteht, die durch Nervenfasern untereinander
in mannigfachster Verbindung stehn, und daß dieses Nervenlabyrinth in unsrer
Hirnschale mit den Sinnesorganen durch die Sinnesnerven wie durch Tele-
graphendrähte kommuniziert. Der Physiker fügt hinzu, daß in den Nerven
galvanische Ströme zirkulieren. Der Chemiker findet, daß sich das Hirnfett
durch einen hohen Phosphorsänregehalt auszeichnet, was einen bekannten Hei߬
sporn zu dem Schluß begeistert hat: ohne Phosphor kein Gedanke! — einem
Schluß, der auf gleicher Rangstufe steht mit dem Satze: ohne Zündhölzchen
kein Feuer. Nun frage ich, was nützt uns all das zur Erfüllung unsers
Postulats? Nichts!" Von den Funktionen des Auges und des Ohres könne
man sagen, daß sie bis auf einen gewissen Grad erklärlich und erklärt seien.
Jenes sei ein dioptrischer, dieses ein akustischer Apparat, von denen man ein¬
sehe, wie sie zur Fortpflanzung der Lichtstrahlen und der Schallwellen in das
Innere des Menschen dienten, und warum sie unentbehrlich seien, wenn auch
freilich die Hauptsache: das Empfinden von Licht und Schall, das mit Äther-
und Luftwellen keine Ähnlichkeit habe, unerklärt bleibe. Noch vollständiger
seien die rein mechanischen Leistungen der Lunge und des Herzens erklärt.
„Nun aber möchte ich gern wissen: Inwiefern trügt das Volumen, das ab¬
solute und das spezifische Gewicht, die Struktur und Textur, der Faltenreich¬
tum und der Fettgehalt eines menschlichen Gehirns zur Entstehung gerade der
Gedanken bei, die der glückliche oder unglückliche Inhaber dieses Gehirns hat?
Warum hat das Hirn des Hottentottenweibes keine Gvethegedankeu? Weil
es — nicht Goethes Gehirn ist. Soviel wissen wir, mehr nicht. ^Gerade in
diesem Falle wissen wir doch noch etwas mehr, nämlich, daß ein Goethegehirn
nur bei der weißen Nasse und auf einer gewissen Kulturstufe vorkommen kann.^
Unsre materialistische Erklärung der geistigen Funktionen wetteifert mit dem
berühmten: ovium lÄvit clormirs, «.via sse in co viiws clormitiva." Freilich
kann nicht ohne Gehirn gedacht werden, aber — haben die Gegner des Ma¬
terialismus schon vor fünfzig Jahren eingewandt — ohne Geige kann auch
der Virtuos nicht geigen, und hier wird eben (bei Liebmann fehlt dieses zur
Vollständigkeit der Gedankenkette gehörige Glied) zweierlei gesucht: der Geiger
und die Art und Weise, wie ihm sein Instrument dient; das zweite kennen
wir nicht bloß bei der Geige, sondern, wie oben bemerkt wurde, auch
beim Ohr.

Soviel wiffen wir, daß den Gedankenreihen Hirnschwingungen entsprechen
müssen; aber mit der Unerklärbarkeit dieses Parallelismus und der Un¬
vergleichbarkeit der beiden parallelen Reihen ist der Gehalt unsers Gegen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/70>, abgerufen am 25.05.2024.