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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Zur Psychologie und Anthropologie

an man ehedem von Seelenkunde sprach, so meinte man ge¬
wöhnlich die praktische Wissenschaft, die dem Staatsmann die
Herrschaft über die Gemüter und dem Pädagogen die wirksame
Einflößung der Seelennahrung ermöglicht, und die als Kunst
Perikles, Kleon und der Marc Anton in Shakespeares Cäsar,
sowie Sokrates und Pestalozzi geübt haben. Aber die Inder haben doch auch
früh schon das Wesen der Seele zu ergründen gesucht, und derselbe Plato, der
uns die Hebammenkunst seines Meisters beschrieben hat, stellt im Theätet und
sonst rein spekulative Untersuchungen des Erkenntnisvorgangs an. Es wäre
jn auch sonderbar, wenn der spekulative Trieb, der sogar das schwarze Natur¬
kind zu kindischen Erklärungsversuchen der Naturerscheinungen treibt, gerade
vor dem Halt macheu wollte, was dein Menschen am nächsten liegt, ja was
er selbst ist. ,,Wie groß ist doch der Reichtum des Bewußtseins sinswori^s),
ruft Augustinus, welche unermeßliche Schatzkammer! (vsnötMö). Wer hat sie
je ergründet? Und dieser Reichtum gehört meinem Geiste, gehört zu meiner
Natur, ich selbst aber vermag das, was ich bin, nicht völlig zu fassen. Also
ist der Geist zu eng, sich selbst zu fassen! Und wo ist der Teil von ihm,
den er nicht faßt? Doch nicht etwa außerhalb seiner? Wie geht es also
zu, daß er ihn nicht faßt? Staunen ergreift mich bei der Betrachtung dieses
Wunders. Da gehn nun die Menschen hin und bewundern die hohen Berge und
die gewaltigen Fluten des Meeres und die Wasserfälle und den Umfang des
Ozeans und die Kreisbewegung der Gestirne aber staunen, sich selbst vergessend,
nicht darüber, daß ich, als ich diese Dinge nannte, keines von ihnen sah und
doch sie nicht nennen könnte, wenn ich nicht die Berge und die Fluten und
die Ströme und die Gestirne, die ich gesehen, und das Weltmeer, das ich
niemals gesehen habe, in meinem Bewußtsein sähe in all ihrer ungeheuern
Größe. Und ich habe sie beim Sehen nicht verschlungen; nicht sie selbst sind
in mir, sondern nur ihre Bilder. Und ich weiß, durch welchen Sinn meines
Leibes ein jedes Abbild der Außenwelt meiner Seele eingedrückt worden ist."
Und nachdem er so das erkenntnistheoretische Problem und das psychologische
Problem der Enge des Bewußtseins aufgestellt hat, erörtert er die Frage,
wie man etwas wissen und zugleich nicht wissen könne, denn das ist der Fall,
da man ja in jedem Augenblick nur einen kleinen Gedankenkreis überschaut,
die ungeheure Masse dessen aber, was man weiß, im Dunkel der geheimnis-




Zur Psychologie und Anthropologie

an man ehedem von Seelenkunde sprach, so meinte man ge¬
wöhnlich die praktische Wissenschaft, die dem Staatsmann die
Herrschaft über die Gemüter und dem Pädagogen die wirksame
Einflößung der Seelennahrung ermöglicht, und die als Kunst
Perikles, Kleon und der Marc Anton in Shakespeares Cäsar,
sowie Sokrates und Pestalozzi geübt haben. Aber die Inder haben doch auch
früh schon das Wesen der Seele zu ergründen gesucht, und derselbe Plato, der
uns die Hebammenkunst seines Meisters beschrieben hat, stellt im Theätet und
sonst rein spekulative Untersuchungen des Erkenntnisvorgangs an. Es wäre
jn auch sonderbar, wenn der spekulative Trieb, der sogar das schwarze Natur¬
kind zu kindischen Erklärungsversuchen der Naturerscheinungen treibt, gerade
vor dem Halt macheu wollte, was dein Menschen am nächsten liegt, ja was
er selbst ist. ,,Wie groß ist doch der Reichtum des Bewußtseins sinswori^s),
ruft Augustinus, welche unermeßliche Schatzkammer! (vsnötMö). Wer hat sie
je ergründet? Und dieser Reichtum gehört meinem Geiste, gehört zu meiner
Natur, ich selbst aber vermag das, was ich bin, nicht völlig zu fassen. Also
ist der Geist zu eng, sich selbst zu fassen! Und wo ist der Teil von ihm,
den er nicht faßt? Doch nicht etwa außerhalb seiner? Wie geht es also
zu, daß er ihn nicht faßt? Staunen ergreift mich bei der Betrachtung dieses
Wunders. Da gehn nun die Menschen hin und bewundern die hohen Berge und
die gewaltigen Fluten des Meeres und die Wasserfälle und den Umfang des
Ozeans und die Kreisbewegung der Gestirne aber staunen, sich selbst vergessend,
nicht darüber, daß ich, als ich diese Dinge nannte, keines von ihnen sah und
doch sie nicht nennen könnte, wenn ich nicht die Berge und die Fluten und
die Ströme und die Gestirne, die ich gesehen, und das Weltmeer, das ich
niemals gesehen habe, in meinem Bewußtsein sähe in all ihrer ungeheuern
Größe. Und ich habe sie beim Sehen nicht verschlungen; nicht sie selbst sind
in mir, sondern nur ihre Bilder. Und ich weiß, durch welchen Sinn meines
Leibes ein jedes Abbild der Außenwelt meiner Seele eingedrückt worden ist."
Und nachdem er so das erkenntnistheoretische Problem und das psychologische
Problem der Enge des Bewußtseins aufgestellt hat, erörtert er die Frage,
wie man etwas wissen und zugleich nicht wissen könne, denn das ist der Fall,
da man ja in jedem Augenblick nur einen kleinen Gedankenkreis überschaut,
die ungeheure Masse dessen aber, was man weiß, im Dunkel der geheimnis-


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[0026] [Abbildung] Zur Psychologie und Anthropologie an man ehedem von Seelenkunde sprach, so meinte man ge¬ wöhnlich die praktische Wissenschaft, die dem Staatsmann die Herrschaft über die Gemüter und dem Pädagogen die wirksame Einflößung der Seelennahrung ermöglicht, und die als Kunst Perikles, Kleon und der Marc Anton in Shakespeares Cäsar, sowie Sokrates und Pestalozzi geübt haben. Aber die Inder haben doch auch früh schon das Wesen der Seele zu ergründen gesucht, und derselbe Plato, der uns die Hebammenkunst seines Meisters beschrieben hat, stellt im Theätet und sonst rein spekulative Untersuchungen des Erkenntnisvorgangs an. Es wäre jn auch sonderbar, wenn der spekulative Trieb, der sogar das schwarze Natur¬ kind zu kindischen Erklärungsversuchen der Naturerscheinungen treibt, gerade vor dem Halt macheu wollte, was dein Menschen am nächsten liegt, ja was er selbst ist. ,,Wie groß ist doch der Reichtum des Bewußtseins sinswori^s), ruft Augustinus, welche unermeßliche Schatzkammer! (vsnötMö). Wer hat sie je ergründet? Und dieser Reichtum gehört meinem Geiste, gehört zu meiner Natur, ich selbst aber vermag das, was ich bin, nicht völlig zu fassen. Also ist der Geist zu eng, sich selbst zu fassen! Und wo ist der Teil von ihm, den er nicht faßt? Doch nicht etwa außerhalb seiner? Wie geht es also zu, daß er ihn nicht faßt? Staunen ergreift mich bei der Betrachtung dieses Wunders. Da gehn nun die Menschen hin und bewundern die hohen Berge und die gewaltigen Fluten des Meeres und die Wasserfälle und den Umfang des Ozeans und die Kreisbewegung der Gestirne aber staunen, sich selbst vergessend, nicht darüber, daß ich, als ich diese Dinge nannte, keines von ihnen sah und doch sie nicht nennen könnte, wenn ich nicht die Berge und die Fluten und die Ströme und die Gestirne, die ich gesehen, und das Weltmeer, das ich niemals gesehen habe, in meinem Bewußtsein sähe in all ihrer ungeheuern Größe. Und ich habe sie beim Sehen nicht verschlungen; nicht sie selbst sind in mir, sondern nur ihre Bilder. Und ich weiß, durch welchen Sinn meines Leibes ein jedes Abbild der Außenwelt meiner Seele eingedrückt worden ist." Und nachdem er so das erkenntnistheoretische Problem und das psychologische Problem der Enge des Bewußtseins aufgestellt hat, erörtert er die Frage, wie man etwas wissen und zugleich nicht wissen könne, denn das ist der Fall, da man ja in jedem Augenblick nur einen kleinen Gedankenkreis überschaut, die ungeheure Masse dessen aber, was man weiß, im Dunkel der geheimnis-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/26>, abgerufen am 28.04.2024.