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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Die Wolnmngs- und Bodenpolitik in Großberlin

el den jüngst in den Grenzboten angestellten Betrachtungen über
Wohnnngs- und Bodenpolitik ist schon der scharfen Kritik gedacht
worden, die neuerdings von einigen wissenschaftlichen Verfechtern
des extremen neuprenßischen Stantssvzialismns um der Entwick¬
lung der Berliner Grundbesitz- und Wohnungsverhältnisse im
neunzehnten Jahrhundert und namentlich in den letzten Jahrzehnten geübt
worden ist. Es muß schon deshalb auf diese Kritik noch etwas näher ein¬
gegangen werden, weil -- ganz abgesehen von dem Grad ihrer wissenschaftlichen
Berechtigung -- auf sie hin für praktische Reformen durch gesetzgeberische und
Vcrwaltungsmaßuahmeu agitiert wird, die in sozialistischer Richtung weit über
das Ziel hinausgehn würden, das sich eine ihrer Verantwortlichkeit bewußte
Negierungspolitik zur Zeit stecken darf. Ganz besondre Bedeutung wird von
der bodeureformerischen Agitation in dieser Beziehung dem zweitem Teil des
Buchs von I)r. Paul Voigt über "Grundrente und Wohnungsfrage in Berlin
und seinen Vororten" beigelegt, der die Verhältnisse in den Berliner Vororten,
besonders in Charlottenburg, am Kurfürstendamm und in der Billenkolonie
Grünewald in der Zeit von 1871 bis zur Gegenwart zwar sehr eingehend
und mit anerkennenswerten Fleiß, aber leider nicht ganz tendenziös be¬
handelt.

Es ist auch schon ausführlich darüber gesprochen worden, wie Paul Voigt
der Berliner Bau- und Wohnungspolitik des preußischen Merkantilismus des
achtzehnten Jahrhunderts großes Lob erteilt, gegen das dann das sogenannte
liberale oder individualistische Regime des neunzehnten Jahrhunderts um so
schärfer absticht. Auch bei der Darstellung der Entwicklung der Berliner Bor¬
ortsverhältnisse seit 1800 stellt der Verfasser die Zustände bis 1870/71 zu
rosig dar und malt dann die darauf folgenden um so wirkungsvoller grau in
grau, und vollends die seit 1887 ganz schwarz. Er berichtet dabei durchaus
nicht etwa nur über feststehende Thatsachen in pessimistischer Auffassung zu
schwarz, sondern er beurteilt auch das Verhalten der Behörden und ihrer
Motive ungerecht. Es ist namentlich eine arge Übertreibung, wenn er sich
schließlich in seiner Darstellung der Zustände nach 1887 zu dem Satze versteigt,
die ganze Entwicklung des Baurechts in den Vororten sei charakterisiert "durch
eine zunehmende Konnivenz der Behörden gegenüber den Interessen und Be¬
strebungen der Spekulanten."




Die Wolnmngs- und Bodenpolitik in Großberlin

el den jüngst in den Grenzboten angestellten Betrachtungen über
Wohnnngs- und Bodenpolitik ist schon der scharfen Kritik gedacht
worden, die neuerdings von einigen wissenschaftlichen Verfechtern
des extremen neuprenßischen Stantssvzialismns um der Entwick¬
lung der Berliner Grundbesitz- und Wohnungsverhältnisse im
neunzehnten Jahrhundert und namentlich in den letzten Jahrzehnten geübt
worden ist. Es muß schon deshalb auf diese Kritik noch etwas näher ein¬
gegangen werden, weil — ganz abgesehen von dem Grad ihrer wissenschaftlichen
Berechtigung — auf sie hin für praktische Reformen durch gesetzgeberische und
Vcrwaltungsmaßuahmeu agitiert wird, die in sozialistischer Richtung weit über
das Ziel hinausgehn würden, das sich eine ihrer Verantwortlichkeit bewußte
Negierungspolitik zur Zeit stecken darf. Ganz besondre Bedeutung wird von
der bodeureformerischen Agitation in dieser Beziehung dem zweitem Teil des
Buchs von I)r. Paul Voigt über „Grundrente und Wohnungsfrage in Berlin
und seinen Vororten" beigelegt, der die Verhältnisse in den Berliner Vororten,
besonders in Charlottenburg, am Kurfürstendamm und in der Billenkolonie
Grünewald in der Zeit von 1871 bis zur Gegenwart zwar sehr eingehend
und mit anerkennenswerten Fleiß, aber leider nicht ganz tendenziös be¬
handelt.

Es ist auch schon ausführlich darüber gesprochen worden, wie Paul Voigt
der Berliner Bau- und Wohnungspolitik des preußischen Merkantilismus des
achtzehnten Jahrhunderts großes Lob erteilt, gegen das dann das sogenannte
liberale oder individualistische Regime des neunzehnten Jahrhunderts um so
schärfer absticht. Auch bei der Darstellung der Entwicklung der Berliner Bor¬
ortsverhältnisse seit 1800 stellt der Verfasser die Zustände bis 1870/71 zu
rosig dar und malt dann die darauf folgenden um so wirkungsvoller grau in
grau, und vollends die seit 1887 ganz schwarz. Er berichtet dabei durchaus
nicht etwa nur über feststehende Thatsachen in pessimistischer Auffassung zu
schwarz, sondern er beurteilt auch das Verhalten der Behörden und ihrer
Motive ungerecht. Es ist namentlich eine arge Übertreibung, wenn er sich
schließlich in seiner Darstellung der Zustände nach 1887 zu dem Satze versteigt,
die ganze Entwicklung des Baurechts in den Vororten sei charakterisiert „durch
eine zunehmende Konnivenz der Behörden gegenüber den Interessen und Be¬
strebungen der Spekulanten."


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[0304] [Abbildung] Die Wolnmngs- und Bodenpolitik in Großberlin el den jüngst in den Grenzboten angestellten Betrachtungen über Wohnnngs- und Bodenpolitik ist schon der scharfen Kritik gedacht worden, die neuerdings von einigen wissenschaftlichen Verfechtern des extremen neuprenßischen Stantssvzialismns um der Entwick¬ lung der Berliner Grundbesitz- und Wohnungsverhältnisse im neunzehnten Jahrhundert und namentlich in den letzten Jahrzehnten geübt worden ist. Es muß schon deshalb auf diese Kritik noch etwas näher ein¬ gegangen werden, weil — ganz abgesehen von dem Grad ihrer wissenschaftlichen Berechtigung — auf sie hin für praktische Reformen durch gesetzgeberische und Vcrwaltungsmaßuahmeu agitiert wird, die in sozialistischer Richtung weit über das Ziel hinausgehn würden, das sich eine ihrer Verantwortlichkeit bewußte Negierungspolitik zur Zeit stecken darf. Ganz besondre Bedeutung wird von der bodeureformerischen Agitation in dieser Beziehung dem zweitem Teil des Buchs von I)r. Paul Voigt über „Grundrente und Wohnungsfrage in Berlin und seinen Vororten" beigelegt, der die Verhältnisse in den Berliner Vororten, besonders in Charlottenburg, am Kurfürstendamm und in der Billenkolonie Grünewald in der Zeit von 1871 bis zur Gegenwart zwar sehr eingehend und mit anerkennenswerten Fleiß, aber leider nicht ganz tendenziös be¬ handelt. Es ist auch schon ausführlich darüber gesprochen worden, wie Paul Voigt der Berliner Bau- und Wohnungspolitik des preußischen Merkantilismus des achtzehnten Jahrhunderts großes Lob erteilt, gegen das dann das sogenannte liberale oder individualistische Regime des neunzehnten Jahrhunderts um so schärfer absticht. Auch bei der Darstellung der Entwicklung der Berliner Bor¬ ortsverhältnisse seit 1800 stellt der Verfasser die Zustände bis 1870/71 zu rosig dar und malt dann die darauf folgenden um so wirkungsvoller grau in grau, und vollends die seit 1887 ganz schwarz. Er berichtet dabei durchaus nicht etwa nur über feststehende Thatsachen in pessimistischer Auffassung zu schwarz, sondern er beurteilt auch das Verhalten der Behörden und ihrer Motive ungerecht. Es ist namentlich eine arge Übertreibung, wenn er sich schließlich in seiner Darstellung der Zustände nach 1887 zu dem Satze versteigt, die ganze Entwicklung des Baurechts in den Vororten sei charakterisiert „durch eine zunehmende Konnivenz der Behörden gegenüber den Interessen und Be¬ strebungen der Spekulanten."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/304>, abgerufen am 28.04.2024.