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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Italien und die albanesische Frage

Haus ein Programm mit Beifall begrüßt hat, von den, man dort annimmt,
daß es nur gegen Österreich, gegen eine Verbündete Macht durchgeführt
werden kann.

Ob man damit Recht hat, ob man in Wien wirklich an eine dereinstige
Erwerbung Albaniens denkt, das erscheint freilich äußerst zweifelhaft. Der
schwerfällige, künstliche Ban des österreichisch-ungarischen Gesamtstaats, der
schon die Erwerbung Bosniens nur in der Form einer militärischen Okkupa¬
tion, nicht eiuer Einverleibung hat durchführe" können, würde eine neue Be¬
lastung mit so völlig fremdartigen, schwer regierbaren Elementen, wie es die
Albanesen sind, jedenfalls nur im äußersten Notfalle auf sich nehmen und die
Errichtung eines innerlich autonomen, äußerlich vom Sultan abhängigen
Staatswesens, also die Ausführung des italienischen Programms wahrscheinlich
vorziehn. Keinesfalls liegt es in der jetzigen Richtung der notwendigerweise
konservativen österreichischen Politik, die orientalische Frage ans der Balkan¬
halbinsel selbst wieder aufzurollen, und ebensowenig in der Richtung der
deutschen Politik, die im Gegenteil alles thut, um die Türkei zu erhalten, nicht
aus Vorliebe für die biedern Türken, sondern im wohlverstandenen, eignen
Interesse. Man könnte in der That auf die Türkei den alten, von Österreich
geltenden Satz anwenden: sie müßte erfunden werden, wenn sie nicht schon
existierte. Denn ein die ganze Valkanhalbinsel umfassender Nationalstaat ist
schlechterdings unmöglich, und ihre schon weit fortgeschrittne Auflösung in
kleinere nationale Ganze mit voller Souveränität hat schon bis jetzt arge Nach¬
teile herbeigeführt, der Fortbestand einer über allen diesen hadernden Stämmen
stehenden Macht ist also an sich das wünschenswerte. Das Unglück ist eben,
daß eine unmittelbare Herrschaft der Türken über christliche Völker bei der
Unverträglichkeit ihrer theatralischen Verfassung mit der modernen Gesittung
mehr und mehr zur Unmöglichkeit wird, also die Tage ihres Reichs in Europa
in der bisherigen Form gezählt sind. So bleibt eben doch schließlich nur die
fortschreitende Verwandlung der dort noch türkischen Gebiete in autonome
Provinzen oder Vasallenstaaten, und zu diesen: Ziele können die Mächte des
Dreibunds zusammenwirken, ohne miteinander in Konflikt zu geraten, also ihre
Verbindung und damit den Frieden Europas zu gefährden. In es will uns
schönen, als ob das deutsche und das österreichische Programm für die nähere
Zukunft des türkischen Orients schon thatsächlich laute: Erhaltung des Status vno
so lange wie irgend möglich, und sollte diese Möglichkeit aufhören, weitere
allmähliche^ friedliche Auflösung der europäischen Türkei in christliche Gemein¬
em nnter einer nicht nur scheinbare", sondern wirksamen Oberhoheit des
Sultans, dagegen Erhaltung und Kräftigung des türkischen Reichs in Asien
, beides unter abendländischer Überwachung.




Italien und die albanesische Frage

Haus ein Programm mit Beifall begrüßt hat, von den, man dort annimmt,
daß es nur gegen Österreich, gegen eine Verbündete Macht durchgeführt
werden kann.

Ob man damit Recht hat, ob man in Wien wirklich an eine dereinstige
Erwerbung Albaniens denkt, das erscheint freilich äußerst zweifelhaft. Der
schwerfällige, künstliche Ban des österreichisch-ungarischen Gesamtstaats, der
schon die Erwerbung Bosniens nur in der Form einer militärischen Okkupa¬
tion, nicht eiuer Einverleibung hat durchführe» können, würde eine neue Be¬
lastung mit so völlig fremdartigen, schwer regierbaren Elementen, wie es die
Albanesen sind, jedenfalls nur im äußersten Notfalle auf sich nehmen und die
Errichtung eines innerlich autonomen, äußerlich vom Sultan abhängigen
Staatswesens, also die Ausführung des italienischen Programms wahrscheinlich
vorziehn. Keinesfalls liegt es in der jetzigen Richtung der notwendigerweise
konservativen österreichischen Politik, die orientalische Frage ans der Balkan¬
halbinsel selbst wieder aufzurollen, und ebensowenig in der Richtung der
deutschen Politik, die im Gegenteil alles thut, um die Türkei zu erhalten, nicht
aus Vorliebe für die biedern Türken, sondern im wohlverstandenen, eignen
Interesse. Man könnte in der That auf die Türkei den alten, von Österreich
geltenden Satz anwenden: sie müßte erfunden werden, wenn sie nicht schon
existierte. Denn ein die ganze Valkanhalbinsel umfassender Nationalstaat ist
schlechterdings unmöglich, und ihre schon weit fortgeschrittne Auflösung in
kleinere nationale Ganze mit voller Souveränität hat schon bis jetzt arge Nach¬
teile herbeigeführt, der Fortbestand einer über allen diesen hadernden Stämmen
stehenden Macht ist also an sich das wünschenswerte. Das Unglück ist eben,
daß eine unmittelbare Herrschaft der Türken über christliche Völker bei der
Unverträglichkeit ihrer theatralischen Verfassung mit der modernen Gesittung
mehr und mehr zur Unmöglichkeit wird, also die Tage ihres Reichs in Europa
in der bisherigen Form gezählt sind. So bleibt eben doch schließlich nur die
fortschreitende Verwandlung der dort noch türkischen Gebiete in autonome
Provinzen oder Vasallenstaaten, und zu diesen: Ziele können die Mächte des
Dreibunds zusammenwirken, ohne miteinander in Konflikt zu geraten, also ihre
Verbindung und damit den Frieden Europas zu gefährden. In es will uns
schönen, als ob das deutsche und das österreichische Programm für die nähere
Zukunft des türkischen Orients schon thatsächlich laute: Erhaltung des Status vno
so lange wie irgend möglich, und sollte diese Möglichkeit aufhören, weitere
allmähliche^ friedliche Auflösung der europäischen Türkei in christliche Gemein¬
em nnter einer nicht nur scheinbare», sondern wirksamen Oberhoheit des
Sultans, dagegen Erhaltung und Kräftigung des türkischen Reichs in Asien
, beides unter abendländischer Überwachung.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/303>, abgerufen am 11.05.2024.