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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Goethe und Frankfurtmain

vermag wo seine Überzeugung auf Schlußfolgerungen, auf Indizien beruht,
da mag er davon ausgehn, daß er sich irren kann. Er mag die für die Un¬
schuld des Augetlngteu sprechende" Punkte zusammenstellen und sagen: "Meiner
persönlichen Überzeugung von der Schuld oder Unschuld des Angeklagten Aus¬
druck zu geben, habe ich keinen Anlaß, ich bitte das, was ich gesagt habe,
bei Prüfung der Schuldfrage zu berücksichtigen." Glaubt aber der Verteidiger
den vollen positiven Beweis für die Thäterschaft des Angeklagten in den
Händen zu haben, so darf er über die Schuldfrage überhaupt nicht sprechen.
Er muß sich begnügen, die Punkte zusammenzustellen, die für eine milde Be¬
urteilung des Falles in Betracht kommen.

Nur so wird meines Trachtens der Verteidiger der doppelten Aufgabe
gerecht, die ihm die Strafprozeßordnung zuweist, Helfer zu sein bei der Er¬
mittlung der Wahrheit nud Vertreter der Interessen des Angeklagten.


F. Llvers


Goethe und jranksurtmcnn

in 28. August 1899 kam ich zu Frankfnrtmain, wie die dortigen
Börsianer ihre Stadt billigerer Telegramme wegen nennen, in
einen Charentierladen. Im Schaufenster, wo sonst ein Schweins¬
kopf steht, stand eine Büste Goethes, mit Lorbeer, aber ohne
Zitrone; ich fragte, dnrch diesen Ausdruck der Goetheverehruug
zu solcher Frage ermutigt, die Inhaberin des Ladens, was sie eigentlich von
Goethe und der Feier seines hnndertfünfzigsten Geburtstags halte, und sie
antwortete mir: "Es mecht schou was aus. Mauche Kuinie hawc Logirbesiich;
innere, wo der Zug vorbeikemmt, gewe e Gawelfrihstick; ich bin zufridde."

Man Spotte nicht über eine solche Beurteilung des großen Mannes; es
ist ja natürlich, daß jeder ein Fest in der ihm eigentümlichen Weise begeht.
So feiern die Juden die Geburt des Heilands durch Wcihnachtsausvcrkänfe,
und die Frankfurter die Geburt Goethes durch Essen. Denn jeder Kenner
der dortigen Verhältnisse weiß, daß das Essen im geistigen Leben dieser Stadt
eine ganz besondre Rolle spielt. Am 10. Juni 1781 schrieb Goeckingk an
Bürger: "Zu Frankfurt war ich zwar acht Tage, da der Ort selbst mir aber
nicht behagte und ich bei Leuten, die sich nur auf Fressen, Saufen und Karten¬
spiel versteh", nicht ausdauern konnte" usw. Dieses etwas starke Urteil trifft,
wenigsteus heutzutage, nicht durchaus zu; von Verständnis für Kartenspiel,
das viel Nachdenken erfordert, konnte ich bei längeren Aufenthalt in Frankfurt
nichts entdecken; auch das Verständnis für das Trinken habe ich nnderorts,
zu", Beispiel am Rhein, viel höher entwickelt gefunden; aber das Verständnis


Grenzboten III ISV1 Ü8
Goethe und Frankfurtmain

vermag wo seine Überzeugung auf Schlußfolgerungen, auf Indizien beruht,
da mag er davon ausgehn, daß er sich irren kann. Er mag die für die Un¬
schuld des Augetlngteu sprechende» Punkte zusammenstellen und sagen: „Meiner
persönlichen Überzeugung von der Schuld oder Unschuld des Angeklagten Aus¬
druck zu geben, habe ich keinen Anlaß, ich bitte das, was ich gesagt habe,
bei Prüfung der Schuldfrage zu berücksichtigen." Glaubt aber der Verteidiger
den vollen positiven Beweis für die Thäterschaft des Angeklagten in den
Händen zu haben, so darf er über die Schuldfrage überhaupt nicht sprechen.
Er muß sich begnügen, die Punkte zusammenzustellen, die für eine milde Be¬
urteilung des Falles in Betracht kommen.

Nur so wird meines Trachtens der Verteidiger der doppelten Aufgabe
gerecht, die ihm die Strafprozeßordnung zuweist, Helfer zu sein bei der Er¬
mittlung der Wahrheit nud Vertreter der Interessen des Angeklagten.


F. Llvers


Goethe und jranksurtmcnn

in 28. August 1899 kam ich zu Frankfnrtmain, wie die dortigen
Börsianer ihre Stadt billigerer Telegramme wegen nennen, in
einen Charentierladen. Im Schaufenster, wo sonst ein Schweins¬
kopf steht, stand eine Büste Goethes, mit Lorbeer, aber ohne
Zitrone; ich fragte, dnrch diesen Ausdruck der Goetheverehruug
zu solcher Frage ermutigt, die Inhaberin des Ladens, was sie eigentlich von
Goethe und der Feier seines hnndertfünfzigsten Geburtstags halte, und sie
antwortete mir: „Es mecht schou was aus. Mauche Kuinie hawc Logirbesiich;
innere, wo der Zug vorbeikemmt, gewe e Gawelfrihstick; ich bin zufridde."

Man Spotte nicht über eine solche Beurteilung des großen Mannes; es
ist ja natürlich, daß jeder ein Fest in der ihm eigentümlichen Weise begeht.
So feiern die Juden die Geburt des Heilands durch Wcihnachtsausvcrkänfe,
und die Frankfurter die Geburt Goethes durch Essen. Denn jeder Kenner
der dortigen Verhältnisse weiß, daß das Essen im geistigen Leben dieser Stadt
eine ganz besondre Rolle spielt. Am 10. Juni 1781 schrieb Goeckingk an
Bürger: „Zu Frankfurt war ich zwar acht Tage, da der Ort selbst mir aber
nicht behagte und ich bei Leuten, die sich nur auf Fressen, Saufen und Karten¬
spiel versteh», nicht ausdauern konnte" usw. Dieses etwas starke Urteil trifft,
wenigsteus heutzutage, nicht durchaus zu; von Verständnis für Kartenspiel,
das viel Nachdenken erfordert, konnte ich bei längeren Aufenthalt in Frankfurt
nichts entdecken; auch das Verständnis für das Trinken habe ich nnderorts,
zu», Beispiel am Rhein, viel höher entwickelt gefunden; aber das Verständnis


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[0465] Goethe und Frankfurtmain vermag wo seine Überzeugung auf Schlußfolgerungen, auf Indizien beruht, da mag er davon ausgehn, daß er sich irren kann. Er mag die für die Un¬ schuld des Augetlngteu sprechende» Punkte zusammenstellen und sagen: „Meiner persönlichen Überzeugung von der Schuld oder Unschuld des Angeklagten Aus¬ druck zu geben, habe ich keinen Anlaß, ich bitte das, was ich gesagt habe, bei Prüfung der Schuldfrage zu berücksichtigen." Glaubt aber der Verteidiger den vollen positiven Beweis für die Thäterschaft des Angeklagten in den Händen zu haben, so darf er über die Schuldfrage überhaupt nicht sprechen. Er muß sich begnügen, die Punkte zusammenzustellen, die für eine milde Be¬ urteilung des Falles in Betracht kommen. Nur so wird meines Trachtens der Verteidiger der doppelten Aufgabe gerecht, die ihm die Strafprozeßordnung zuweist, Helfer zu sein bei der Er¬ mittlung der Wahrheit nud Vertreter der Interessen des Angeklagten. F. Llvers Goethe und jranksurtmcnn in 28. August 1899 kam ich zu Frankfnrtmain, wie die dortigen Börsianer ihre Stadt billigerer Telegramme wegen nennen, in einen Charentierladen. Im Schaufenster, wo sonst ein Schweins¬ kopf steht, stand eine Büste Goethes, mit Lorbeer, aber ohne Zitrone; ich fragte, dnrch diesen Ausdruck der Goetheverehruug zu solcher Frage ermutigt, die Inhaberin des Ladens, was sie eigentlich von Goethe und der Feier seines hnndertfünfzigsten Geburtstags halte, und sie antwortete mir: „Es mecht schou was aus. Mauche Kuinie hawc Logirbesiich; innere, wo der Zug vorbeikemmt, gewe e Gawelfrihstick; ich bin zufridde." Man Spotte nicht über eine solche Beurteilung des großen Mannes; es ist ja natürlich, daß jeder ein Fest in der ihm eigentümlichen Weise begeht. So feiern die Juden die Geburt des Heilands durch Wcihnachtsausvcrkänfe, und die Frankfurter die Geburt Goethes durch Essen. Denn jeder Kenner der dortigen Verhältnisse weiß, daß das Essen im geistigen Leben dieser Stadt eine ganz besondre Rolle spielt. Am 10. Juni 1781 schrieb Goeckingk an Bürger: „Zu Frankfurt war ich zwar acht Tage, da der Ort selbst mir aber nicht behagte und ich bei Leuten, die sich nur auf Fressen, Saufen und Karten¬ spiel versteh», nicht ausdauern konnte" usw. Dieses etwas starke Urteil trifft, wenigsteus heutzutage, nicht durchaus zu; von Verständnis für Kartenspiel, das viel Nachdenken erfordert, konnte ich bei längeren Aufenthalt in Frankfurt nichts entdecken; auch das Verständnis für das Trinken habe ich nnderorts, zu», Beispiel am Rhein, viel höher entwickelt gefunden; aber das Verständnis Grenzboten III ISV1 Ü8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/465>, abgerufen am 27.04.2024.