Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die englische itokalverwaltmig

sie halbe Tage lang in Neger oder Schnee stehn zu lassen. Da die Parteien
abwechselnd stimmen, man also im voraus von jedem Wähler weiß, wie er
stimmen wird, können die meist der herrschenden Partei angehörenden Wahl-
funltiouäre bei der Feststellung der Identität die größte Willkür ausübe".
Der größte Übelstand bleibt aber die öffentliche Abstimmung, die alle Ab¬
hängigen, vor allem alle Beamten hindert, ihrer freien Überzeugung zu folgen.
Solange uicht die geheime Abstimmung in den Gemeinden eingeführt ist, so¬
lange tausende von Wählern oft fünf bis sechs Meilen weit an den Wahlort
gebracht werden müssen, wird von wirklichen Wahlen nicht die Rede sein
können.

Mag darum auch das Abgeordnetenhaus, das im Herbst gewählt werden
wird, besser und unabhängiger als das jetzige werden, als wirkliche Volks¬
vertretung, als wahres Spiegelbild der Volksmeinung wird es noch nicht an¬
gesehen werden können. Ob Ministerpräsident Szell den Willen und die Kraft
haben wird, mit seiner Hilfe ein des modernen Rechtsstaats würdiges neues
Wahlgesetz zu schaffen, ist eine Lebensfrage für die verfassungsmäßige Ent¬
wicklung Ungarns, an der es seit der Einführung des Dualismus im Wesen
gefehlt hat, wenn auch mit großer Geschicklichkeit der Schein hergestellt worden
ist. Nur wenn dieses Versäumnis nachgeholt wird, wird man in Wahrheit
von der vielgerühmten, thatsächlich aber nur sehr beschränkten ungarischen
Freiheit reden können.




Die englische Lokalverwaltung
2. Der gegenwärtige Zustand

(ÄMÄ
M^Bledlich schließt die Entwicklungsgeschichte der englischen Lokal-
Verwaltung mit dem Satze: "Nun erst, nach völliger Beseitigung
der historischen Klassenherrschaft sowohl im Parlament als anch
in der Lokalverwaltung ist für England das wahre Selfgovernment
I geschaffen worden: nämlich die Selbstgesetzgebung und Selbst¬
regierung des Volks durch ein auf allgemeinem Wahlrecht beruhendes Par¬
lament und durch völlige Unterordnung der Zentralgewalt unter dieses ver¬
mittelst des Systems der parlamentarischen Regierung; die Selbstverwaltung
des Volks durch Ausgestaltung der ganzen innern Landesverwaltung zur ad¬
ministrativen Thätigkeit demokratischer Kommunen unter gleichzeitiger Be¬
wahrung der Rechtsprechung als Funktion eines von Parlament, Negierung
und Verwaltungskörperschaften völlig unabhängigen Richtertums, dessen Juris¬
diktion in gleichem Verfahren und mit gleicher Kraft über alle gesetzlich ge¬
ordneten Beziehungen des Gemeinlebens wacht nud endgiltig entscheidet."


Die englische itokalverwaltmig

sie halbe Tage lang in Neger oder Schnee stehn zu lassen. Da die Parteien
abwechselnd stimmen, man also im voraus von jedem Wähler weiß, wie er
stimmen wird, können die meist der herrschenden Partei angehörenden Wahl-
funltiouäre bei der Feststellung der Identität die größte Willkür ausübe».
Der größte Übelstand bleibt aber die öffentliche Abstimmung, die alle Ab¬
hängigen, vor allem alle Beamten hindert, ihrer freien Überzeugung zu folgen.
Solange uicht die geheime Abstimmung in den Gemeinden eingeführt ist, so¬
lange tausende von Wählern oft fünf bis sechs Meilen weit an den Wahlort
gebracht werden müssen, wird von wirklichen Wahlen nicht die Rede sein
können.

Mag darum auch das Abgeordnetenhaus, das im Herbst gewählt werden
wird, besser und unabhängiger als das jetzige werden, als wirkliche Volks¬
vertretung, als wahres Spiegelbild der Volksmeinung wird es noch nicht an¬
gesehen werden können. Ob Ministerpräsident Szell den Willen und die Kraft
haben wird, mit seiner Hilfe ein des modernen Rechtsstaats würdiges neues
Wahlgesetz zu schaffen, ist eine Lebensfrage für die verfassungsmäßige Ent¬
wicklung Ungarns, an der es seit der Einführung des Dualismus im Wesen
gefehlt hat, wenn auch mit großer Geschicklichkeit der Schein hergestellt worden
ist. Nur wenn dieses Versäumnis nachgeholt wird, wird man in Wahrheit
von der vielgerühmten, thatsächlich aber nur sehr beschränkten ungarischen
Freiheit reden können.




Die englische Lokalverwaltung
2. Der gegenwärtige Zustand

(ÄMÄ
M^Bledlich schließt die Entwicklungsgeschichte der englischen Lokal-
Verwaltung mit dem Satze: „Nun erst, nach völliger Beseitigung
der historischen Klassenherrschaft sowohl im Parlament als anch
in der Lokalverwaltung ist für England das wahre Selfgovernment
I geschaffen worden: nämlich die Selbstgesetzgebung und Selbst¬
regierung des Volks durch ein auf allgemeinem Wahlrecht beruhendes Par¬
lament und durch völlige Unterordnung der Zentralgewalt unter dieses ver¬
mittelst des Systems der parlamentarischen Regierung; die Selbstverwaltung
des Volks durch Ausgestaltung der ganzen innern Landesverwaltung zur ad¬
ministrativen Thätigkeit demokratischer Kommunen unter gleichzeitiger Be¬
wahrung der Rechtsprechung als Funktion eines von Parlament, Negierung
und Verwaltungskörperschaften völlig unabhängigen Richtertums, dessen Juris¬
diktion in gleichem Verfahren und mit gleicher Kraft über alle gesetzlich ge¬
ordneten Beziehungen des Gemeinlebens wacht nud endgiltig entscheidet."


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0494" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/235666"/>
          <fw type="header" place="top"> Die englische itokalverwaltmig</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2049" prev="#ID_2048"> sie halbe Tage lang in Neger oder Schnee stehn zu lassen. Da die Parteien<lb/>
abwechselnd stimmen, man also im voraus von jedem Wähler weiß, wie er<lb/>
stimmen wird, können die meist der herrschenden Partei angehörenden Wahl-<lb/>
funltiouäre bei der Feststellung der Identität die größte Willkür ausübe».<lb/>
Der größte Übelstand bleibt aber die öffentliche Abstimmung, die alle Ab¬<lb/>
hängigen, vor allem alle Beamten hindert, ihrer freien Überzeugung zu folgen.<lb/>
Solange uicht die geheime Abstimmung in den Gemeinden eingeführt ist, so¬<lb/>
lange tausende von Wählern oft fünf bis sechs Meilen weit an den Wahlort<lb/>
gebracht werden müssen, wird von wirklichen Wahlen nicht die Rede sein<lb/>
können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2050"> Mag darum auch das Abgeordnetenhaus, das im Herbst gewählt werden<lb/>
wird, besser und unabhängiger als das jetzige werden, als wirkliche Volks¬<lb/>
vertretung, als wahres Spiegelbild der Volksmeinung wird es noch nicht an¬<lb/>
gesehen werden können. Ob Ministerpräsident Szell den Willen und die Kraft<lb/>
haben wird, mit seiner Hilfe ein des modernen Rechtsstaats würdiges neues<lb/>
Wahlgesetz zu schaffen, ist eine Lebensfrage für die verfassungsmäßige Ent¬<lb/>
wicklung Ungarns, an der es seit der Einführung des Dualismus im Wesen<lb/>
gefehlt hat, wenn auch mit großer Geschicklichkeit der Schein hergestellt worden<lb/>
ist. Nur wenn dieses Versäumnis nachgeholt wird, wird man in Wahrheit<lb/>
von der vielgerühmten, thatsächlich aber nur sehr beschränkten ungarischen<lb/>
Freiheit reden können.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die englische Lokalverwaltung<lb/>
2. Der gegenwärtige Zustand </head><lb/>
          <p xml:id="ID_2051"> (ÄMÄ<lb/>
M^Bledlich schließt die Entwicklungsgeschichte der englischen Lokal-<lb/>
Verwaltung mit dem Satze: &#x201E;Nun erst, nach völliger Beseitigung<lb/>
der historischen Klassenherrschaft sowohl im Parlament als anch<lb/>
in der Lokalverwaltung ist für England das wahre Selfgovernment<lb/>
I geschaffen worden: nämlich die Selbstgesetzgebung und Selbst¬<lb/>
regierung des Volks durch ein auf allgemeinem Wahlrecht beruhendes Par¬<lb/>
lament und durch völlige Unterordnung der Zentralgewalt unter dieses ver¬<lb/>
mittelst des Systems der parlamentarischen Regierung; die Selbstverwaltung<lb/>
des Volks durch Ausgestaltung der ganzen innern Landesverwaltung zur ad¬<lb/>
ministrativen Thätigkeit demokratischer Kommunen unter gleichzeitiger Be¬<lb/>
wahrung der Rechtsprechung als Funktion eines von Parlament, Negierung<lb/>
und Verwaltungskörperschaften völlig unabhängigen Richtertums, dessen Juris¬<lb/>
diktion in gleichem Verfahren und mit gleicher Kraft über alle gesetzlich ge¬<lb/>
ordneten Beziehungen des Gemeinlebens wacht nud endgiltig entscheidet."</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0494] Die englische itokalverwaltmig sie halbe Tage lang in Neger oder Schnee stehn zu lassen. Da die Parteien abwechselnd stimmen, man also im voraus von jedem Wähler weiß, wie er stimmen wird, können die meist der herrschenden Partei angehörenden Wahl- funltiouäre bei der Feststellung der Identität die größte Willkür ausübe». Der größte Übelstand bleibt aber die öffentliche Abstimmung, die alle Ab¬ hängigen, vor allem alle Beamten hindert, ihrer freien Überzeugung zu folgen. Solange uicht die geheime Abstimmung in den Gemeinden eingeführt ist, so¬ lange tausende von Wählern oft fünf bis sechs Meilen weit an den Wahlort gebracht werden müssen, wird von wirklichen Wahlen nicht die Rede sein können. Mag darum auch das Abgeordnetenhaus, das im Herbst gewählt werden wird, besser und unabhängiger als das jetzige werden, als wirkliche Volks¬ vertretung, als wahres Spiegelbild der Volksmeinung wird es noch nicht an¬ gesehen werden können. Ob Ministerpräsident Szell den Willen und die Kraft haben wird, mit seiner Hilfe ein des modernen Rechtsstaats würdiges neues Wahlgesetz zu schaffen, ist eine Lebensfrage für die verfassungsmäßige Ent¬ wicklung Ungarns, an der es seit der Einführung des Dualismus im Wesen gefehlt hat, wenn auch mit großer Geschicklichkeit der Schein hergestellt worden ist. Nur wenn dieses Versäumnis nachgeholt wird, wird man in Wahrheit von der vielgerühmten, thatsächlich aber nur sehr beschränkten ungarischen Freiheit reden können. Die englische Lokalverwaltung 2. Der gegenwärtige Zustand (ÄMÄ M^Bledlich schließt die Entwicklungsgeschichte der englischen Lokal- Verwaltung mit dem Satze: „Nun erst, nach völliger Beseitigung der historischen Klassenherrschaft sowohl im Parlament als anch in der Lokalverwaltung ist für England das wahre Selfgovernment I geschaffen worden: nämlich die Selbstgesetzgebung und Selbst¬ regierung des Volks durch ein auf allgemeinem Wahlrecht beruhendes Par¬ lament und durch völlige Unterordnung der Zentralgewalt unter dieses ver¬ mittelst des Systems der parlamentarischen Regierung; die Selbstverwaltung des Volks durch Ausgestaltung der ganzen innern Landesverwaltung zur ad¬ ministrativen Thätigkeit demokratischer Kommunen unter gleichzeitiger Be¬ wahrung der Rechtsprechung als Funktion eines von Parlament, Negierung und Verwaltungskörperschaften völlig unabhängigen Richtertums, dessen Juris¬ diktion in gleichem Verfahren und mit gleicher Kraft über alle gesetzlich ge¬ ordneten Beziehungen des Gemeinlebens wacht nud endgiltig entscheidet."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/494
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/494>, abgerufen am 28.04.2024.