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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Sie ungarischen und die böhmischen Wahlen

lichkeiten spaltet, unter denen sich zuletzt auch Teufel einstellten. Es wirken
eben im Volksgeiste zwei Kräfte gegeneinander. Die Vernunft fordert Ableitung
aller Erscheinungen der geistigen und der Körperwelt aus einer gemeinsamen
Quelle. Die Phantasie dagegen verlangt nach anschaubaren Gestalten; sie weiß
mit einem Wesen, das alles zusammen und kein einzelnes sein soll, das dnrmn
nicht dargestellt werden kann, nichts anzufangen. Wenn vollends die bildenden
Künste in ihren Dienst treten, kann es doch immer nur eine individuelle Er¬
scheinung sein, was sie darstellen, also niemals der eine Gott. Klammert sich
nun die Phantasie an diese Darstellungen an, so geht notwendig die Einheit
Gottes verloren, und es bleiben nnr Götter übrig. Deu Ausweg der Orientalen,
der übrigens vor der Vielgötterei nicht bewahrte, die Universalität des Welt¬
geistes dnrch die Verbindung von Tier- und Menschengestalten oder dnrch
Vielköpfigkeit oder Vielarmigkeit auszudrücken, verschmähte der hellenische Ge¬
schmack, sobald er sich vollständig von den orientalischen Lehrmeistern der Technik
befreit hatte. Auch das nebelhafte, nicht darstellbare Wesen, das Aisa oder
Moira genannt wird, ist ein Erzeugnis der nach Einheit strebenden Vernunft;
aus deren ungelösten Widerstreit mit der an der Vielheit der Erscheinungen
haftenden Phantasie erklären sich die auffälligsten Widersprüche der homerischen
Theologie. /^r^er^^ (Schluß folgt)




Die ungarischen und die böhmischen Wahlen

! owvhl in den Ländern der Stephanskrone wie in denen der Wenzcls-
krone waren die wahlberechtigten Bürger berufen, Abgeordnete zu
wählen, an der Donau und um der Theiß in den Reichstag, um der
Moldau und an der Elbe nur in deu Landtag, dem die Tschechen
jedoch dieselbe Bedeutung zuwenden mochten, wie die Mngyaren
I ihrem Parlament. Beide Wahlen dürfen erhöhtes Interesse bean¬
spruchen, weil beide unter neuen Bedingungen und Verhältnissen vor sich ge¬
gangen sind.

In Ur. 37 der Grenzboten ist der bisherige Charakter der ungarischen Wahlen
dargelegt, und es ist vorausgesagt worden, daß trotz ihrer vom Ministerpräsidenten
Szcll angekündigten künftigen Freiheit und Reinheit kaum eine wesentliche Wendung
eintreten werde. Und in der That hat nach wie vor das Geld eine große Rolle
lui Wahlkampf gespielt. Nur hat es sich meist in den gesetzlichen Rahmen der
Zahlung von Fnhrlvhnen und in den der Bewirtung am Wahltage und Wahlorte
gefügt, womit aber nicht ausgeschlossen ist, daß in zahlreichen Orten die Bestechung
ganz so wie früher geblüht hat. Es bleibt mir abzuwarten, wieviel derartige
Fälle der königlichen Kurie angezeigt werden, und wieviel man wird nachweisen
können. Auch der Druck der Komitatsbchörden anf die Wähler, der allerdings
nicht überall und meist weit vorsichtiger als früher geübt worden ist, dürfte sich


Grenzboten IV 1901 38
Sie ungarischen und die böhmischen Wahlen

lichkeiten spaltet, unter denen sich zuletzt auch Teufel einstellten. Es wirken
eben im Volksgeiste zwei Kräfte gegeneinander. Die Vernunft fordert Ableitung
aller Erscheinungen der geistigen und der Körperwelt aus einer gemeinsamen
Quelle. Die Phantasie dagegen verlangt nach anschaubaren Gestalten; sie weiß
mit einem Wesen, das alles zusammen und kein einzelnes sein soll, das dnrmn
nicht dargestellt werden kann, nichts anzufangen. Wenn vollends die bildenden
Künste in ihren Dienst treten, kann es doch immer nur eine individuelle Er¬
scheinung sein, was sie darstellen, also niemals der eine Gott. Klammert sich
nun die Phantasie an diese Darstellungen an, so geht notwendig die Einheit
Gottes verloren, und es bleiben nnr Götter übrig. Deu Ausweg der Orientalen,
der übrigens vor der Vielgötterei nicht bewahrte, die Universalität des Welt¬
geistes dnrch die Verbindung von Tier- und Menschengestalten oder dnrch
Vielköpfigkeit oder Vielarmigkeit auszudrücken, verschmähte der hellenische Ge¬
schmack, sobald er sich vollständig von den orientalischen Lehrmeistern der Technik
befreit hatte. Auch das nebelhafte, nicht darstellbare Wesen, das Aisa oder
Moira genannt wird, ist ein Erzeugnis der nach Einheit strebenden Vernunft;
aus deren ungelösten Widerstreit mit der an der Vielheit der Erscheinungen
haftenden Phantasie erklären sich die auffälligsten Widersprüche der homerischen
Theologie. /^r^er^^ (Schluß folgt)




Die ungarischen und die böhmischen Wahlen

! owvhl in den Ländern der Stephanskrone wie in denen der Wenzcls-
krone waren die wahlberechtigten Bürger berufen, Abgeordnete zu
wählen, an der Donau und um der Theiß in den Reichstag, um der
Moldau und an der Elbe nur in deu Landtag, dem die Tschechen
jedoch dieselbe Bedeutung zuwenden mochten, wie die Mngyaren
I ihrem Parlament. Beide Wahlen dürfen erhöhtes Interesse bean¬
spruchen, weil beide unter neuen Bedingungen und Verhältnissen vor sich ge¬
gangen sind.

In Ur. 37 der Grenzboten ist der bisherige Charakter der ungarischen Wahlen
dargelegt, und es ist vorausgesagt worden, daß trotz ihrer vom Ministerpräsidenten
Szcll angekündigten künftigen Freiheit und Reinheit kaum eine wesentliche Wendung
eintreten werde. Und in der That hat nach wie vor das Geld eine große Rolle
lui Wahlkampf gespielt. Nur hat es sich meist in den gesetzlichen Rahmen der
Zahlung von Fnhrlvhnen und in den der Bewirtung am Wahltage und Wahlorte
gefügt, womit aber nicht ausgeschlossen ist, daß in zahlreichen Orten die Bestechung
ganz so wie früher geblüht hat. Es bleibt mir abzuwarten, wieviel derartige
Fälle der königlichen Kurie angezeigt werden, und wieviel man wird nachweisen
können. Auch der Druck der Komitatsbchörden anf die Wähler, der allerdings
nicht überall und meist weit vorsichtiger als früher geübt worden ist, dürfte sich


Grenzboten IV 1901 38
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[0305] Sie ungarischen und die böhmischen Wahlen lichkeiten spaltet, unter denen sich zuletzt auch Teufel einstellten. Es wirken eben im Volksgeiste zwei Kräfte gegeneinander. Die Vernunft fordert Ableitung aller Erscheinungen der geistigen und der Körperwelt aus einer gemeinsamen Quelle. Die Phantasie dagegen verlangt nach anschaubaren Gestalten; sie weiß mit einem Wesen, das alles zusammen und kein einzelnes sein soll, das dnrmn nicht dargestellt werden kann, nichts anzufangen. Wenn vollends die bildenden Künste in ihren Dienst treten, kann es doch immer nur eine individuelle Er¬ scheinung sein, was sie darstellen, also niemals der eine Gott. Klammert sich nun die Phantasie an diese Darstellungen an, so geht notwendig die Einheit Gottes verloren, und es bleiben nnr Götter übrig. Deu Ausweg der Orientalen, der übrigens vor der Vielgötterei nicht bewahrte, die Universalität des Welt¬ geistes dnrch die Verbindung von Tier- und Menschengestalten oder dnrch Vielköpfigkeit oder Vielarmigkeit auszudrücken, verschmähte der hellenische Ge¬ schmack, sobald er sich vollständig von den orientalischen Lehrmeistern der Technik befreit hatte. Auch das nebelhafte, nicht darstellbare Wesen, das Aisa oder Moira genannt wird, ist ein Erzeugnis der nach Einheit strebenden Vernunft; aus deren ungelösten Widerstreit mit der an der Vielheit der Erscheinungen haftenden Phantasie erklären sich die auffälligsten Widersprüche der homerischen Theologie. /^r^er^^ (Schluß folgt) Die ungarischen und die böhmischen Wahlen ! owvhl in den Ländern der Stephanskrone wie in denen der Wenzcls- krone waren die wahlberechtigten Bürger berufen, Abgeordnete zu wählen, an der Donau und um der Theiß in den Reichstag, um der Moldau und an der Elbe nur in deu Landtag, dem die Tschechen jedoch dieselbe Bedeutung zuwenden mochten, wie die Mngyaren I ihrem Parlament. Beide Wahlen dürfen erhöhtes Interesse bean¬ spruchen, weil beide unter neuen Bedingungen und Verhältnissen vor sich ge¬ gangen sind. In Ur. 37 der Grenzboten ist der bisherige Charakter der ungarischen Wahlen dargelegt, und es ist vorausgesagt worden, daß trotz ihrer vom Ministerpräsidenten Szcll angekündigten künftigen Freiheit und Reinheit kaum eine wesentliche Wendung eintreten werde. Und in der That hat nach wie vor das Geld eine große Rolle lui Wahlkampf gespielt. Nur hat es sich meist in den gesetzlichen Rahmen der Zahlung von Fnhrlvhnen und in den der Bewirtung am Wahltage und Wahlorte gefügt, womit aber nicht ausgeschlossen ist, daß in zahlreichen Orten die Bestechung ganz so wie früher geblüht hat. Es bleibt mir abzuwarten, wieviel derartige Fälle der königlichen Kurie angezeigt werden, und wieviel man wird nachweisen können. Auch der Druck der Komitatsbchörden anf die Wähler, der allerdings nicht überall und meist weit vorsichtiger als früher geübt worden ist, dürfte sich Grenzboten IV 1901 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/305>, abgerufen am 03.05.2024.