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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Mont Se. Michel "ut der Michaclsknltus
1

Der gewaltige, wie von Riesenfaust ins Meer geschleuderte Fels in seiner
wechselvollen Umgebung mußte frühzeitig die Phantasie der Umwohner be¬
schäftigen. Bei dem große" Feuchtigkeitsgehalt der Luft -- das nahe Avrcmches
weist die bedeutendste jährliche Regenhöhe von Frankreich auf -- überzog
sich der Berg bald mit Grün. Er wurde zu einem abgeschiednen Hain. So
kann wohl ein historischer Kern der Sage zu Grunde liegen, Druiden hätten
auf dem Berge "Tumba" -- das ist sein frühester Name -- im dunkeln Hain
ein Heiligtum gehabt.

In historisches Licht tritt er aber erst um 380 bei der Erwähnung der
Kämpfe Theodosius des Großen mit dem Usurpator Maximus. Als Grenze
Punkte des der spätern Bretagne entsprechenden Gebiets, wo dessen britische
Söldner angesiedelt worden waren, werden da Nantes, das westliche Vor¬
gebirge der Bretagne und se,g,Murr cinvat est super vgrlwsna luoirtis ^ovis
angegeben, also kein See und kein Sumpf, sondern ein durch Auftreten des
Meers oder eines Flusses entstandnes Gewässer in der Nachbarschaft eines
steilen Jupiterbergs. Zweifellos können das nur die Watten am Fuße des
Mont Se. Michel sein. Die keltischen Götter hatten dein Jupiter weichen
müssen; er seinerseits machte nach dem endgiltigen Siege des Christentums
dem Christengotte Platz. Wie so häufig im Orient werden sich auch hier zu¬
nächst Christen, die das Unglück und die Ausschweifungen der Welt fliehn
wollten, auf diese von der Welt losgelöste Felseninsel geflüchtet haben, um sich
einem bedürfnislosen, beschaulichen Leben hingeben zu könne". Leben aber
mußten sie von den l'rutU <it in-M, den zahlreichen Muscheln der Sandbänke,
die noch heute das wesentlichste Nahrungsmittel der armen Bevölkerung bilden,
denn anbaufähiges Land gab es auf dem Felsen nur wenig. Andre Hilfsquellen
bot den Mönchen erst die Erhebung der Stätte zum Wallfahrtsort °im Anfang
des achten Jahrhunderts. Wem anders aber konnte der Berg des Jupiter
geweiht werden als dem heiligen Michael, der als Führer der himmlischen
Heerscharen an so vielen Stellen in romanischen und germanischen Landen
Rechtsnachfolger des Jupiter und des Thor geworden ist?

Schon lange bestand der Michaelskultus bei den Griechen. Er hat wahr¬
scheinlich seinen Ursprung in einem heidnischen Lokaldienst aus der Umgegend
von Kolossä und Laodieea, deren Bewohner schon der Apostel Paulus vor
abergläubischen Dienst der Engel warnt. Aber vergeblich, denn gerade das
Konzil von Laodieea 363 wendet sich scharf gegen den Engeldienst und nennt
die Anrufung der Engel einen heimlichen Götzendienst, und der Bischof
Theodoret um 450 erwähnt zahlreiche Kapellen des Erzengels Michael in
jener Gegend. Ungefähr gleichzeitig erhoben sich am Ausgang des Bosporus
Kirchen des Michael an sturmumbrauster Stätte. Bezeichnenderweise erscheint
hier schon der Engel in doppelter Art, als Schirmherr in xsrioulo niMs und
wfolge der Bestrebung der Kirche, heidnische Gottheiten umzudeuten, als Nach-


Mont Se. Michel »ut der Michaclsknltus
1

Der gewaltige, wie von Riesenfaust ins Meer geschleuderte Fels in seiner
wechselvollen Umgebung mußte frühzeitig die Phantasie der Umwohner be¬
schäftigen. Bei dem große« Feuchtigkeitsgehalt der Luft — das nahe Avrcmches
weist die bedeutendste jährliche Regenhöhe von Frankreich auf — überzog
sich der Berg bald mit Grün. Er wurde zu einem abgeschiednen Hain. So
kann wohl ein historischer Kern der Sage zu Grunde liegen, Druiden hätten
auf dem Berge „Tumba" — das ist sein frühester Name — im dunkeln Hain
ein Heiligtum gehabt.

In historisches Licht tritt er aber erst um 380 bei der Erwähnung der
Kämpfe Theodosius des Großen mit dem Usurpator Maximus. Als Grenze
Punkte des der spätern Bretagne entsprechenden Gebiets, wo dessen britische
Söldner angesiedelt worden waren, werden da Nantes, das westliche Vor¬
gebirge der Bretagne und se,g,Murr cinvat est super vgrlwsna luoirtis ^ovis
angegeben, also kein See und kein Sumpf, sondern ein durch Auftreten des
Meers oder eines Flusses entstandnes Gewässer in der Nachbarschaft eines
steilen Jupiterbergs. Zweifellos können das nur die Watten am Fuße des
Mont Se. Michel sein. Die keltischen Götter hatten dein Jupiter weichen
müssen; er seinerseits machte nach dem endgiltigen Siege des Christentums
dem Christengotte Platz. Wie so häufig im Orient werden sich auch hier zu¬
nächst Christen, die das Unglück und die Ausschweifungen der Welt fliehn
wollten, auf diese von der Welt losgelöste Felseninsel geflüchtet haben, um sich
einem bedürfnislosen, beschaulichen Leben hingeben zu könne». Leben aber
mußten sie von den l'rutU <it in-M, den zahlreichen Muscheln der Sandbänke,
die noch heute das wesentlichste Nahrungsmittel der armen Bevölkerung bilden,
denn anbaufähiges Land gab es auf dem Felsen nur wenig. Andre Hilfsquellen
bot den Mönchen erst die Erhebung der Stätte zum Wallfahrtsort °im Anfang
des achten Jahrhunderts. Wem anders aber konnte der Berg des Jupiter
geweiht werden als dem heiligen Michael, der als Führer der himmlischen
Heerscharen an so vielen Stellen in romanischen und germanischen Landen
Rechtsnachfolger des Jupiter und des Thor geworden ist?

Schon lange bestand der Michaelskultus bei den Griechen. Er hat wahr¬
scheinlich seinen Ursprung in einem heidnischen Lokaldienst aus der Umgegend
von Kolossä und Laodieea, deren Bewohner schon der Apostel Paulus vor
abergläubischen Dienst der Engel warnt. Aber vergeblich, denn gerade das
Konzil von Laodieea 363 wendet sich scharf gegen den Engeldienst und nennt
die Anrufung der Engel einen heimlichen Götzendienst, und der Bischof
Theodoret um 450 erwähnt zahlreiche Kapellen des Erzengels Michael in
jener Gegend. Ungefähr gleichzeitig erhoben sich am Ausgang des Bosporus
Kirchen des Michael an sturmumbrauster Stätte. Bezeichnenderweise erscheint
hier schon der Engel in doppelter Art, als Schirmherr in xsrioulo niMs und
wfolge der Bestrebung der Kirche, heidnische Gottheiten umzudeuten, als Nach-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/91>, abgerufen am 03.05.2024.