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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Die jüngsten Unruhen in Athen und die neugriechische Bibelübersetzung

Zunft hatte ihren Schutzheiligen, und sie konnte ohne ihre Kapelle oder wenigstens
einen eignen Altar so wenig gedacht werden, wie ein mittelalterliches Dorf
ohne Kirche,




Die jüngsten Unruhen in Athen und die neugriechische
Bibelübersetzung
von A. Thumb

er von dem Studentenkrawall und den sonstigen Unruhen gelesen
hat, die jüngst aus Athen berichtet wurden, mag sich wohl sehr
gewundert haben über den uns höchst harmlos scheinenden Anlaß
dieser plötzlichen Bewegung, dnrch die wieder einmal mehr als
sonst die Aufmerksamkeit ans das Volk der Griechen gelenkt wird.
Der Plan einer neugriechischen Bibelübersetzung -- so lasen wir -- hat die
Studenten zu lebhaften Äußerungen gegen die Redaktionen zweier Zeitungen,
der "Asty" und der "Akropolis," veranlaßt, die ihn gutgeheißen haben. Die
Erregung stieg so weit, daß es zu Blutvergießen kam, daß man sogar auf den
Ministerpräsidenten schoß, der die erregte Menge zu beruhigen versuchte, daß
die Synode nach den Zeitungsberichten dem Exkommunikation androhte, der
eine Übersetzung der Bibel veranstalten wolle, und daß das Ministerium selbst
über diese Angelegenheit zum Sturze kam.

Man sieht sich im heutigen Europa wohl vergebens nach Analogien zu
diesem Vorgang tun. Es ist ein Sprachenkampf ganz eigner Art -- nicht zu
vergleichen mit den Kämpfe", die etwa in Österreich zwischen den verschiednen
Nationen toben. In der griechischen Volksseele ringen zwei Kulturströmungen
gegeneinander und drängen um mit eiueimnal zu einer gewaltsamen Ex¬
plosion. Es siud rein philologische Dinge, um die es sich handelt. Aber der
gebildete und der halbgebildete Grieche jeden Standes ereifert sich aufs höchste
Ut solchen Dingen, die dem Mitteleuropüer und besonders dem Deutschen mehr
oder weniger gleichgiltig siud -- teils weil ihn die Sache überhaupt kalt läßt,
teils weil sie im wesentlichen für ihn erledigt ist.

Zwei philologische Fragen sind dem Griechen geradezu nationale Fragen:
die Aussprache des Altgrichischen und die Parteistellung zu einer bestimmten
Form der Littcratursprache. Man braucht mit Griechen nicht lange zu Verkehren,
bis man über diese Fragen interpelliert wird. "Was für eine Ansicht haben
Sie über die Aussprache?" so fragt der griechische Gelehrte, der Schulmeister,
der Kleriker, der Arzt und wer immer es sei den Fremden, besonders wenn
er Philologe ist (und das sind ja wohl die meisten, die nach Hellas pilgern).
Man muß dann freilich zur großen Betrübnis des Fragenden antworten, daß
Demosthenes gewiß ganz anders als die heutigen Athener sein Griechisch aus-


Grenzboten I 1902 18
Die jüngsten Unruhen in Athen und die neugriechische Bibelübersetzung

Zunft hatte ihren Schutzheiligen, und sie konnte ohne ihre Kapelle oder wenigstens
einen eignen Altar so wenig gedacht werden, wie ein mittelalterliches Dorf
ohne Kirche,




Die jüngsten Unruhen in Athen und die neugriechische
Bibelübersetzung
von A. Thumb

er von dem Studentenkrawall und den sonstigen Unruhen gelesen
hat, die jüngst aus Athen berichtet wurden, mag sich wohl sehr
gewundert haben über den uns höchst harmlos scheinenden Anlaß
dieser plötzlichen Bewegung, dnrch die wieder einmal mehr als
sonst die Aufmerksamkeit ans das Volk der Griechen gelenkt wird.
Der Plan einer neugriechischen Bibelübersetzung — so lasen wir — hat die
Studenten zu lebhaften Äußerungen gegen die Redaktionen zweier Zeitungen,
der „Asty" und der „Akropolis," veranlaßt, die ihn gutgeheißen haben. Die
Erregung stieg so weit, daß es zu Blutvergießen kam, daß man sogar auf den
Ministerpräsidenten schoß, der die erregte Menge zu beruhigen versuchte, daß
die Synode nach den Zeitungsberichten dem Exkommunikation androhte, der
eine Übersetzung der Bibel veranstalten wolle, und daß das Ministerium selbst
über diese Angelegenheit zum Sturze kam.

Man sieht sich im heutigen Europa wohl vergebens nach Analogien zu
diesem Vorgang tun. Es ist ein Sprachenkampf ganz eigner Art — nicht zu
vergleichen mit den Kämpfe», die etwa in Österreich zwischen den verschiednen
Nationen toben. In der griechischen Volksseele ringen zwei Kulturströmungen
gegeneinander und drängen um mit eiueimnal zu einer gewaltsamen Ex¬
plosion. Es siud rein philologische Dinge, um die es sich handelt. Aber der
gebildete und der halbgebildete Grieche jeden Standes ereifert sich aufs höchste
Ut solchen Dingen, die dem Mitteleuropüer und besonders dem Deutschen mehr
oder weniger gleichgiltig siud — teils weil ihn die Sache überhaupt kalt läßt,
teils weil sie im wesentlichen für ihn erledigt ist.

Zwei philologische Fragen sind dem Griechen geradezu nationale Fragen:
die Aussprache des Altgrichischen und die Parteistellung zu einer bestimmten
Form der Littcratursprache. Man braucht mit Griechen nicht lange zu Verkehren,
bis man über diese Fragen interpelliert wird. „Was für eine Ansicht haben
Sie über die Aussprache?" so fragt der griechische Gelehrte, der Schulmeister,
der Kleriker, der Arzt und wer immer es sei den Fremden, besonders wenn
er Philologe ist (und das sind ja wohl die meisten, die nach Hellas pilgern).
Man muß dann freilich zur großen Betrübnis des Fragenden antworten, daß
Demosthenes gewiß ganz anders als die heutigen Athener sein Griechisch aus-


Grenzboten I 1902 18
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[0145] Die jüngsten Unruhen in Athen und die neugriechische Bibelübersetzung Zunft hatte ihren Schutzheiligen, und sie konnte ohne ihre Kapelle oder wenigstens einen eignen Altar so wenig gedacht werden, wie ein mittelalterliches Dorf ohne Kirche, Die jüngsten Unruhen in Athen und die neugriechische Bibelübersetzung von A. Thumb er von dem Studentenkrawall und den sonstigen Unruhen gelesen hat, die jüngst aus Athen berichtet wurden, mag sich wohl sehr gewundert haben über den uns höchst harmlos scheinenden Anlaß dieser plötzlichen Bewegung, dnrch die wieder einmal mehr als sonst die Aufmerksamkeit ans das Volk der Griechen gelenkt wird. Der Plan einer neugriechischen Bibelübersetzung — so lasen wir — hat die Studenten zu lebhaften Äußerungen gegen die Redaktionen zweier Zeitungen, der „Asty" und der „Akropolis," veranlaßt, die ihn gutgeheißen haben. Die Erregung stieg so weit, daß es zu Blutvergießen kam, daß man sogar auf den Ministerpräsidenten schoß, der die erregte Menge zu beruhigen versuchte, daß die Synode nach den Zeitungsberichten dem Exkommunikation androhte, der eine Übersetzung der Bibel veranstalten wolle, und daß das Ministerium selbst über diese Angelegenheit zum Sturze kam. Man sieht sich im heutigen Europa wohl vergebens nach Analogien zu diesem Vorgang tun. Es ist ein Sprachenkampf ganz eigner Art — nicht zu vergleichen mit den Kämpfe», die etwa in Österreich zwischen den verschiednen Nationen toben. In der griechischen Volksseele ringen zwei Kulturströmungen gegeneinander und drängen um mit eiueimnal zu einer gewaltsamen Ex¬ plosion. Es siud rein philologische Dinge, um die es sich handelt. Aber der gebildete und der halbgebildete Grieche jeden Standes ereifert sich aufs höchste Ut solchen Dingen, die dem Mitteleuropüer und besonders dem Deutschen mehr oder weniger gleichgiltig siud — teils weil ihn die Sache überhaupt kalt läßt, teils weil sie im wesentlichen für ihn erledigt ist. Zwei philologische Fragen sind dem Griechen geradezu nationale Fragen: die Aussprache des Altgrichischen und die Parteistellung zu einer bestimmten Form der Littcratursprache. Man braucht mit Griechen nicht lange zu Verkehren, bis man über diese Fragen interpelliert wird. „Was für eine Ansicht haben Sie über die Aussprache?" so fragt der griechische Gelehrte, der Schulmeister, der Kleriker, der Arzt und wer immer es sei den Fremden, besonders wenn er Philologe ist (und das sind ja wohl die meisten, die nach Hellas pilgern). Man muß dann freilich zur großen Betrübnis des Fragenden antworten, daß Demosthenes gewiß ganz anders als die heutigen Athener sein Griechisch aus- Grenzboten I 1902 18

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/145>, abgerufen am 28.04.2024.