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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Das Vorgehn Rußlands gegen Persien

le Russen bauen ihr Reich nach allen Seiten aus. Indem sie
sich ans das solide Fundament einer urwüchsigen Volkskraft
stützen können, gehn sie beharrlich durch die Jahrhunderte auf
die Erfüllung des großen Entnncklnngsprogramins los, dessen
weitgestecktes Endziel die Herrschaft über ganz Asien ist. Die
organisationslosen, morschen Reiche an den Grenzen, deren nomadisierende,
halbwilde Bevölkerung jederzeit genügenden Anlaß zu Grenzstreitigkeiten giebt,
zerbröckeln und verschwinden.

Der russische Doppelaar breitet seine Schwingen weiter aus; uicht ge¬
hemmt durch die kriegerischen Kaukasnsvölker, durch die Wüsten und Steppen
Zentralasiens, in deren Schutz sich die Charade von Chiwa und Buchara einst
sicher gefühlt hatten, wird sein Flug auch über Persien und Indien gehn.

Zum Verständnis des Vorgehns Rußlands gegen Persien ist es not¬
wendig, sich zuerst liber die Annäherung Rußlands an die persische und die
afghanistanische Grenze klar zu werden, da diese Kämpfe die nationale Ansicht
der Perser über Rußland beeinflußt haben. Denn nicht nur die Siege Ru߬
lands gegen Persien, sondern hauptsächlich die steten Erfolge in Zentralasien,
die Schlag auf Schlag seit vierzig Jahren folgten, haben Rußland in den
Augen aller Asiaten unüberwindlich, unbesiegbar gemacht.

Weiter ist die Politik Englands, des Beherrschers Indiens, zu berück¬
sichtigen, des einzigen Rivalen Rußlands in Persien; denn der Erfolg des
einen bedeutet immer einen Mißerfolg des andern, der Mißerfolg des einen ist
aber einem doppelten Erfolg des andern gleichzustellen.

So sehen wir nun, wie sich Englands Einfluß, der in der erste" Hälfte
des vorigen Jahrhunderts in Persien maßgebend war, immer mehr verminderte,
wahrend Nußland durch seine erfolgreiche und sichere Politik, mit der es jedes
Ziel durchsetzte, in Persien einen ausschlaggebenden Einfluß in allen politischen
Angelegenheiten des Landes erhielt.

Mit der Vergrößerung des Reichs nach Osten, das heute ja bis zu den
eisfreien Häfen des Großen Ozeans durchgeführt ist, fand gleichlaufend ein
Vorgehn nach Südosten statt.


Grenzboten I 1902 29


Das Vorgehn Rußlands gegen Persien

le Russen bauen ihr Reich nach allen Seiten aus. Indem sie
sich ans das solide Fundament einer urwüchsigen Volkskraft
stützen können, gehn sie beharrlich durch die Jahrhunderte auf
die Erfüllung des großen Entnncklnngsprogramins los, dessen
weitgestecktes Endziel die Herrschaft über ganz Asien ist. Die
organisationslosen, morschen Reiche an den Grenzen, deren nomadisierende,
halbwilde Bevölkerung jederzeit genügenden Anlaß zu Grenzstreitigkeiten giebt,
zerbröckeln und verschwinden.

Der russische Doppelaar breitet seine Schwingen weiter aus; uicht ge¬
hemmt durch die kriegerischen Kaukasnsvölker, durch die Wüsten und Steppen
Zentralasiens, in deren Schutz sich die Charade von Chiwa und Buchara einst
sicher gefühlt hatten, wird sein Flug auch über Persien und Indien gehn.

Zum Verständnis des Vorgehns Rußlands gegen Persien ist es not¬
wendig, sich zuerst liber die Annäherung Rußlands an die persische und die
afghanistanische Grenze klar zu werden, da diese Kämpfe die nationale Ansicht
der Perser über Rußland beeinflußt haben. Denn nicht nur die Siege Ru߬
lands gegen Persien, sondern hauptsächlich die steten Erfolge in Zentralasien,
die Schlag auf Schlag seit vierzig Jahren folgten, haben Rußland in den
Augen aller Asiaten unüberwindlich, unbesiegbar gemacht.

Weiter ist die Politik Englands, des Beherrschers Indiens, zu berück¬
sichtigen, des einzigen Rivalen Rußlands in Persien; denn der Erfolg des
einen bedeutet immer einen Mißerfolg des andern, der Mißerfolg des einen ist
aber einem doppelten Erfolg des andern gleichzustellen.

So sehen wir nun, wie sich Englands Einfluß, der in der erste» Hälfte
des vorigen Jahrhunderts in Persien maßgebend war, immer mehr verminderte,
wahrend Nußland durch seine erfolgreiche und sichere Politik, mit der es jedes
Ziel durchsetzte, in Persien einen ausschlaggebenden Einfluß in allen politischen
Angelegenheiten des Landes erhielt.

Mit der Vergrößerung des Reichs nach Osten, das heute ja bis zu den
eisfreien Häfen des Großen Ozeans durchgeführt ist, fand gleichlaufend ein
Vorgehn nach Südosten statt.


Grenzboten I 1902 29
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[0233] [Abbildung] Das Vorgehn Rußlands gegen Persien le Russen bauen ihr Reich nach allen Seiten aus. Indem sie sich ans das solide Fundament einer urwüchsigen Volkskraft stützen können, gehn sie beharrlich durch die Jahrhunderte auf die Erfüllung des großen Entnncklnngsprogramins los, dessen weitgestecktes Endziel die Herrschaft über ganz Asien ist. Die organisationslosen, morschen Reiche an den Grenzen, deren nomadisierende, halbwilde Bevölkerung jederzeit genügenden Anlaß zu Grenzstreitigkeiten giebt, zerbröckeln und verschwinden. Der russische Doppelaar breitet seine Schwingen weiter aus; uicht ge¬ hemmt durch die kriegerischen Kaukasnsvölker, durch die Wüsten und Steppen Zentralasiens, in deren Schutz sich die Charade von Chiwa und Buchara einst sicher gefühlt hatten, wird sein Flug auch über Persien und Indien gehn. Zum Verständnis des Vorgehns Rußlands gegen Persien ist es not¬ wendig, sich zuerst liber die Annäherung Rußlands an die persische und die afghanistanische Grenze klar zu werden, da diese Kämpfe die nationale Ansicht der Perser über Rußland beeinflußt haben. Denn nicht nur die Siege Ru߬ lands gegen Persien, sondern hauptsächlich die steten Erfolge in Zentralasien, die Schlag auf Schlag seit vierzig Jahren folgten, haben Rußland in den Augen aller Asiaten unüberwindlich, unbesiegbar gemacht. Weiter ist die Politik Englands, des Beherrschers Indiens, zu berück¬ sichtigen, des einzigen Rivalen Rußlands in Persien; denn der Erfolg des einen bedeutet immer einen Mißerfolg des andern, der Mißerfolg des einen ist aber einem doppelten Erfolg des andern gleichzustellen. So sehen wir nun, wie sich Englands Einfluß, der in der erste» Hälfte des vorigen Jahrhunderts in Persien maßgebend war, immer mehr verminderte, wahrend Nußland durch seine erfolgreiche und sichere Politik, mit der es jedes Ziel durchsetzte, in Persien einen ausschlaggebenden Einfluß in allen politischen Angelegenheiten des Landes erhielt. Mit der Vergrößerung des Reichs nach Osten, das heute ja bis zu den eisfreien Häfen des Großen Ozeans durchgeführt ist, fand gleichlaufend ein Vorgehn nach Südosten statt. Grenzboten I 1902 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/233>, abgerufen am 29.04.2024.