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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Kulturleben, es bildete sich ein lebhafteres Interesse für die weltbewegenden
Ideen, und was es an religiösen, Schatz und wissenschaftlicher Arbeit angesammelt
hatte, das wurde die Grundlage für die theologische und die Kulturarbeit des
neunzehnten Jahrhunderts.

Wie weit die am Tübinger Stift angebrachte Inschrift <Aimstrum nov
oum MriÄ swtqnö viMtous sua Recht behalten wird, kaun freilich erst die
Zukunft lehren.




Kursächsische Htreifzüge
von G.L.Schmidt
5. Die Lochauer Heide und Annaburg

^ eit den Tagen meiner Schulzeit beschäftigt mich die Lochcmer
Heide. Es siel damals noch niemand ein, dem Knaben einen
historischen Atlas in die Hand zu geben; mich aber hätte ein
solches Buch, das mancher moderne großstädtische Gymnasiast
als eine "Last zu andern Lasten" legt, beglückt, denn ich ver¬
spürte von jeher einen innern Drang nach räumlicher Anschauung der geschicht-
"chen Ereignisse; und als nun eines Tags in der Geschichtsstunde die Vertrüge
von Lochau und Chambord erwähnt wurden, durch die sich Kurfürst Moritz
""t Heinrich II. von Frankreich zum Kampfe gegen Karl V. verbündete, ver¬
mochte ich mit meinen bescheidnen geographischen Hilfsmitteln zwar den fremd-
wndischen Prachtbau, nicht aber das schlichte heimische Jagdschloß nachzuweisen,
^le Kameraden wußten auch nichts davon, und den Geschichtslehrer wagte man
undt zu fragen. So umwob sich nur das rätselhafte Lochau mit dem Schimmer
des Geheimnisvoller -- und erst ein Jahrzehnt später, als ich selbst -- aller¬
dings nur in Quarta -- die sächsische Geschichte vortrug, lüftete sich mir der
Schleier durch die späte Erkenntnis, daß das alte Lochau seit Jahrhunderten
Alast mehr vorhanden, sondern in Annaburg umgetauft worden sei. Dann
^n ich wohl auch einmal auf dem Wege nach Wittenberg mit dem Schncll-
Zuge quer durch die Lochauer Heide geflogen und freute mich, aus der Ferne
un Abendschein einen hochragenden Erker des Schlosses über den Kiefern¬
wipfeln leuchten zu sehen, aber mein alter Wunsch, die Geheimnisse dieses
Waldes und seines Schlosses zu erforschen, wurde doch dadurch nicht gestillt.

Nun war ich aber, nachdem ich tagelang die Heide wie eine schwarze
Zanberdecke vor mir gesehen und ihre äußerste Peripherie von Süden und
^sten her umwandert hatte, endlich wirklich so weit, daß ich vom Dorfe
Labrum her ins Innere vordringen konnte. Als die ersten dürren Zweige
unter mir knackten, und mein Fuß auf weichen, braunen Kiefernadeln stille
stand, hätte es mich gar nicht gewundert, wenn mir ein zottiger Bär über
den Weg getrottet wäre, oder wenn Bocklins "Schweigen im Walde," die


Grenzboten I 1S02 47

Kulturleben, es bildete sich ein lebhafteres Interesse für die weltbewegenden
Ideen, und was es an religiösen, Schatz und wissenschaftlicher Arbeit angesammelt
hatte, das wurde die Grundlage für die theologische und die Kulturarbeit des
neunzehnten Jahrhunderts.

Wie weit die am Tübinger Stift angebrachte Inschrift <Aimstrum nov
oum MriÄ swtqnö viMtous sua Recht behalten wird, kaun freilich erst die
Zukunft lehren.




Kursächsische Htreifzüge
von G.L.Schmidt
5. Die Lochauer Heide und Annaburg

^ eit den Tagen meiner Schulzeit beschäftigt mich die Lochcmer
Heide. Es siel damals noch niemand ein, dem Knaben einen
historischen Atlas in die Hand zu geben; mich aber hätte ein
solches Buch, das mancher moderne großstädtische Gymnasiast
als eine „Last zu andern Lasten" legt, beglückt, denn ich ver¬
spürte von jeher einen innern Drang nach räumlicher Anschauung der geschicht-
"chen Ereignisse; und als nun eines Tags in der Geschichtsstunde die Vertrüge
von Lochau und Chambord erwähnt wurden, durch die sich Kurfürst Moritz
""t Heinrich II. von Frankreich zum Kampfe gegen Karl V. verbündete, ver¬
mochte ich mit meinen bescheidnen geographischen Hilfsmitteln zwar den fremd-
wndischen Prachtbau, nicht aber das schlichte heimische Jagdschloß nachzuweisen,
^le Kameraden wußten auch nichts davon, und den Geschichtslehrer wagte man
undt zu fragen. So umwob sich nur das rätselhafte Lochau mit dem Schimmer
des Geheimnisvoller — und erst ein Jahrzehnt später, als ich selbst — aller¬
dings nur in Quarta — die sächsische Geschichte vortrug, lüftete sich mir der
Schleier durch die späte Erkenntnis, daß das alte Lochau seit Jahrhunderten
Alast mehr vorhanden, sondern in Annaburg umgetauft worden sei. Dann
^n ich wohl auch einmal auf dem Wege nach Wittenberg mit dem Schncll-
Zuge quer durch die Lochauer Heide geflogen und freute mich, aus der Ferne
un Abendschein einen hochragenden Erker des Schlosses über den Kiefern¬
wipfeln leuchten zu sehen, aber mein alter Wunsch, die Geheimnisse dieses
Waldes und seines Schlosses zu erforschen, wurde doch dadurch nicht gestillt.

Nun war ich aber, nachdem ich tagelang die Heide wie eine schwarze
Zanberdecke vor mir gesehen und ihre äußerste Peripherie von Süden und
^sten her umwandert hatte, endlich wirklich so weit, daß ich vom Dorfe
Labrum her ins Innere vordringen konnte. Als die ersten dürren Zweige
unter mir knackten, und mein Fuß auf weichen, braunen Kiefernadeln stille
stand, hätte es mich gar nicht gewundert, wenn mir ein zottiger Bär über
den Weg getrottet wäre, oder wenn Bocklins „Schweigen im Walde," die


Grenzboten I 1S02 47
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[0377] Kulturleben, es bildete sich ein lebhafteres Interesse für die weltbewegenden Ideen, und was es an religiösen, Schatz und wissenschaftlicher Arbeit angesammelt hatte, das wurde die Grundlage für die theologische und die Kulturarbeit des neunzehnten Jahrhunderts. Wie weit die am Tübinger Stift angebrachte Inschrift <Aimstrum nov oum MriÄ swtqnö viMtous sua Recht behalten wird, kaun freilich erst die Zukunft lehren. Kursächsische Htreifzüge von G.L.Schmidt 5. Die Lochauer Heide und Annaburg ^ eit den Tagen meiner Schulzeit beschäftigt mich die Lochcmer Heide. Es siel damals noch niemand ein, dem Knaben einen historischen Atlas in die Hand zu geben; mich aber hätte ein solches Buch, das mancher moderne großstädtische Gymnasiast als eine „Last zu andern Lasten" legt, beglückt, denn ich ver¬ spürte von jeher einen innern Drang nach räumlicher Anschauung der geschicht- "chen Ereignisse; und als nun eines Tags in der Geschichtsstunde die Vertrüge von Lochau und Chambord erwähnt wurden, durch die sich Kurfürst Moritz ""t Heinrich II. von Frankreich zum Kampfe gegen Karl V. verbündete, ver¬ mochte ich mit meinen bescheidnen geographischen Hilfsmitteln zwar den fremd- wndischen Prachtbau, nicht aber das schlichte heimische Jagdschloß nachzuweisen, ^le Kameraden wußten auch nichts davon, und den Geschichtslehrer wagte man undt zu fragen. So umwob sich nur das rätselhafte Lochau mit dem Schimmer des Geheimnisvoller — und erst ein Jahrzehnt später, als ich selbst — aller¬ dings nur in Quarta — die sächsische Geschichte vortrug, lüftete sich mir der Schleier durch die späte Erkenntnis, daß das alte Lochau seit Jahrhunderten Alast mehr vorhanden, sondern in Annaburg umgetauft worden sei. Dann ^n ich wohl auch einmal auf dem Wege nach Wittenberg mit dem Schncll- Zuge quer durch die Lochauer Heide geflogen und freute mich, aus der Ferne un Abendschein einen hochragenden Erker des Schlosses über den Kiefern¬ wipfeln leuchten zu sehen, aber mein alter Wunsch, die Geheimnisse dieses Waldes und seines Schlosses zu erforschen, wurde doch dadurch nicht gestillt. Nun war ich aber, nachdem ich tagelang die Heide wie eine schwarze Zanberdecke vor mir gesehen und ihre äußerste Peripherie von Süden und ^sten her umwandert hatte, endlich wirklich so weit, daß ich vom Dorfe Labrum her ins Innere vordringen konnte. Als die ersten dürren Zweige unter mir knackten, und mein Fuß auf weichen, braunen Kiefernadeln stille stand, hätte es mich gar nicht gewundert, wenn mir ein zottiger Bär über den Weg getrottet wäre, oder wenn Bocklins „Schweigen im Walde," die Grenzboten I 1S02 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/377>, abgerufen am 29.04.2024.