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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Über Thurms isolierten 5>kaat
mit einer Anwendung auf die Wirklichkeit

le Welt der Wirklichkeit ist unendlich im Raum, unendlich in
der Zeit, und die unendliche Mannigfaltigkeit aller möglichen
Einzclfülle und Ereignisse scheint der Berechnung des Menschen¬
geistes zu spotten. Wenn das Menschenauge deu Sternenhimmel
übersieht, so erblickt es eine Unzahl von Lichtern in regelloser
Anordnung durcheinander geworfen. Wenn es mit dein Mikroskop bewaffnet
w die Welt des Kleinen taucht, so scheint ihm, je mehr es eindringt, diese
Welt nur um so tiefer, mannigfaltiger und unendlicher zu werden.

Auch die Welt der Menschenleben ist unendlich. Unausrechenbar die Zahl
aller möglichen Kombinationen, ein Chaos, das, nachdem die Menschenphantasie
Ordnung darin gemacht zu haben glaubt, aus sich heraus immer von neuem
unübersehbare Unordnung gebiert. Aber der Menschengeist hat den sehnsüchtigen
Willen, dieses unendliche Durcheinander zu ordnen, zu berechnen und mit seiner
Ordnung zu beherrschen. Wie das überhaupt möglich ist, davon hat uns
Kant das Geheimnis verraten: Indem die Welt der Erscheinungen in den
Menschengeist eintritt, ordnet sie sich nach transzendenten Gesetzen des Raumes,
der Zeit und Kausalität und wird meßbar, im voraus berechenbar, konstrnierbnr,
^'Perimenticrbar. Der Astronom sagt zu dem Stern: In neun Jahren wirst
du genau auf dieser Stelle stehn. Der Bakteriologe weiß von seinen Bakterien:
Wenn dieser Celsiusthermometer auf 100 Grad stehn wird, so werdet ihr
sterben. Die Zahl bewältigt alles. Mit ihr gelingt es auch die Mannig¬
faltigkeit der Erscheinungen des Menschenlebens zu meistern, z. B. die der
wirtschaftlichen Beziehungen. Aufgabe dieses Aufsatzes ist es zu zeigen, in
Welcher ihm eiqentiimlichen Weise ein geistvoller Mann diese Aufgabe an¬
gegriffen hat.

Johann Heinrich von Thüren*) war Rittergutsbesitzer in Mecklenburg. Er
machte seine ersten Veröffentlichungen im Jahre 1826 und starb im Jahre 1851.



") Thüren, Der isolierte Staat. Dritte Auflage, 1875,
Grenzbote" I 190258


Über Thurms isolierten 5>kaat
mit einer Anwendung auf die Wirklichkeit

le Welt der Wirklichkeit ist unendlich im Raum, unendlich in
der Zeit, und die unendliche Mannigfaltigkeit aller möglichen
Einzclfülle und Ereignisse scheint der Berechnung des Menschen¬
geistes zu spotten. Wenn das Menschenauge deu Sternenhimmel
übersieht, so erblickt es eine Unzahl von Lichtern in regelloser
Anordnung durcheinander geworfen. Wenn es mit dein Mikroskop bewaffnet
w die Welt des Kleinen taucht, so scheint ihm, je mehr es eindringt, diese
Welt nur um so tiefer, mannigfaltiger und unendlicher zu werden.

Auch die Welt der Menschenleben ist unendlich. Unausrechenbar die Zahl
aller möglichen Kombinationen, ein Chaos, das, nachdem die Menschenphantasie
Ordnung darin gemacht zu haben glaubt, aus sich heraus immer von neuem
unübersehbare Unordnung gebiert. Aber der Menschengeist hat den sehnsüchtigen
Willen, dieses unendliche Durcheinander zu ordnen, zu berechnen und mit seiner
Ordnung zu beherrschen. Wie das überhaupt möglich ist, davon hat uns
Kant das Geheimnis verraten: Indem die Welt der Erscheinungen in den
Menschengeist eintritt, ordnet sie sich nach transzendenten Gesetzen des Raumes,
der Zeit und Kausalität und wird meßbar, im voraus berechenbar, konstrnierbnr,
^'Perimenticrbar. Der Astronom sagt zu dem Stern: In neun Jahren wirst
du genau auf dieser Stelle stehn. Der Bakteriologe weiß von seinen Bakterien:
Wenn dieser Celsiusthermometer auf 100 Grad stehn wird, so werdet ihr
sterben. Die Zahl bewältigt alles. Mit ihr gelingt es auch die Mannig¬
faltigkeit der Erscheinungen des Menschenlebens zu meistern, z. B. die der
wirtschaftlichen Beziehungen. Aufgabe dieses Aufsatzes ist es zu zeigen, in
Welcher ihm eiqentiimlichen Weise ein geistvoller Mann diese Aufgabe an¬
gegriffen hat.

Johann Heinrich von Thüren*) war Rittergutsbesitzer in Mecklenburg. Er
machte seine ersten Veröffentlichungen im Jahre 1826 und starb im Jahre 1851.



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/465>, abgerufen am 28.04.2024.