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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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ihn zum höchsten Zweck und Inhalt des Lebens zu machen. Es verwehrt
nicht das Streben nach Besitz, sondern verkündet nur, daß es denen übel er¬
geb" werde, die es nicht verstehn, sich mit dem ungerechten Mammon Freunde
zu machen. Es zeigt einen über das Gewöhnliche hinaufführenden höhern
und höchsten Weg der Entsagung um des Apostolats willen oder aus Nächsten¬
liebe, sagt aber ausdrücklich, daß er nur für die wenigen Auserwühlten be¬
stimmt sei, denen Gott die Kraft gebe, ihn zu wandeln. Die Klippe, an der
das Schifflein der hellenischen Weisheitssucher zerschellt ist, wird vom Neuen
Testament in der Weise umschifft, daß es lehrt, es sei gar nicht Aufgabe der
bürgerlichen Gesellschaft, die Gerechtigkeit zu verwirklichen; dieses geschehe im
Reiche Gottes; das Reich Gottes und die Welt aber seien zwei verschiedne
Reiche, deren jedes nach eignen Gesetzen lebe.

Meine Vermutung über das Verhältnis dieser beiden Reiche zu einander
und über ihre gegenseitigen Beziehungen habe ich bei verschiednen Gelegen¬
heiten, besonders im "Sinn des Christentums" ausgesprochen. Regeln für das
Verhalten des Christen in verschiednen Lebenslagen und verschiednen Personen
und Klassen gegenüber, also was man gewöhnlich Moralvorschriften nennt,
haben Unzählige aus dem Neuen Testament abgeleitet und in unzähligen
Büchern niedergelegt, von denen sich viele, wie die Katechismen, eines amt¬
lichen Charakters rühmen dürfen. Unter allen diesen Arbeiten aber kenne ich
keine, die so zeitgemäß wären und den Lebensodem des Neuen Testaments so
deutlich verspüren ließen wie die kleinen Bücher Hiltys. Mit einer seiner
Regeln, die in mehr als einem Sinne zeitgemäß ist, will ich schließen. "Der
allein richtige Grundsatz im Verkehr mit den Menschen, ja man kann sagen
mit allen Geschöpfen Gottes ist: keines unnötig plagen, mit allen Mitleid em¬
pfinden und jedem Ruhe und Lebensfreude gönnen; aber auch zu verlangen,
daß es seine Pflicht erfülle und nicht bloß dem Genusse leben wolle. In dem
zuletzt genannten liegt das Recht der Erziehung und Zähmung gegenüber dein
Naturrecht der Freiheit; das Recht der Eroberung wilder oder halbwilder Ge¬
biete; das relative Recht der Aristokratie und der Herrschaft über Menschen,
insofern es nämlich zum Vorteil der Beherrschten ausgeübt wird. Jede andre
Herrschaft ist Tyrannei und verdirbt sowohl den, der sie erleidet, wie den, der
sie ausübt."




Dante

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ngt beinahe wie eine Fiktion, daß sich heute in unserm zer¬
streuenden Leben noch Leute, die nicht Romanisten oder Litteratur¬
historiker von Beruf find, mit Dante abgeben, und doch muß es
wohl so sein, und geschähe es auch nur um des Scheins willen,
den ein so sublimes Geschüft um die ganze Persönlichkeit webt,
wie ja auch Frauen manchmal nur sticken sollen, um die Bewegungen ihrer
schönen Hand zu zeigen. Sonst könnten nicht immer wieder Bücher geschrieben


Dante

ihn zum höchsten Zweck und Inhalt des Lebens zu machen. Es verwehrt
nicht das Streben nach Besitz, sondern verkündet nur, daß es denen übel er¬
geb» werde, die es nicht verstehn, sich mit dem ungerechten Mammon Freunde
zu machen. Es zeigt einen über das Gewöhnliche hinaufführenden höhern
und höchsten Weg der Entsagung um des Apostolats willen oder aus Nächsten¬
liebe, sagt aber ausdrücklich, daß er nur für die wenigen Auserwühlten be¬
stimmt sei, denen Gott die Kraft gebe, ihn zu wandeln. Die Klippe, an der
das Schifflein der hellenischen Weisheitssucher zerschellt ist, wird vom Neuen
Testament in der Weise umschifft, daß es lehrt, es sei gar nicht Aufgabe der
bürgerlichen Gesellschaft, die Gerechtigkeit zu verwirklichen; dieses geschehe im
Reiche Gottes; das Reich Gottes und die Welt aber seien zwei verschiedne
Reiche, deren jedes nach eignen Gesetzen lebe.

Meine Vermutung über das Verhältnis dieser beiden Reiche zu einander
und über ihre gegenseitigen Beziehungen habe ich bei verschiednen Gelegen¬
heiten, besonders im „Sinn des Christentums" ausgesprochen. Regeln für das
Verhalten des Christen in verschiednen Lebenslagen und verschiednen Personen
und Klassen gegenüber, also was man gewöhnlich Moralvorschriften nennt,
haben Unzählige aus dem Neuen Testament abgeleitet und in unzähligen
Büchern niedergelegt, von denen sich viele, wie die Katechismen, eines amt¬
lichen Charakters rühmen dürfen. Unter allen diesen Arbeiten aber kenne ich
keine, die so zeitgemäß wären und den Lebensodem des Neuen Testaments so
deutlich verspüren ließen wie die kleinen Bücher Hiltys. Mit einer seiner
Regeln, die in mehr als einem Sinne zeitgemäß ist, will ich schließen. „Der
allein richtige Grundsatz im Verkehr mit den Menschen, ja man kann sagen
mit allen Geschöpfen Gottes ist: keines unnötig plagen, mit allen Mitleid em¬
pfinden und jedem Ruhe und Lebensfreude gönnen; aber auch zu verlangen,
daß es seine Pflicht erfülle und nicht bloß dem Genusse leben wolle. In dem
zuletzt genannten liegt das Recht der Erziehung und Zähmung gegenüber dein
Naturrecht der Freiheit; das Recht der Eroberung wilder oder halbwilder Ge¬
biete; das relative Recht der Aristokratie und der Herrschaft über Menschen,
insofern es nämlich zum Vorteil der Beherrschten ausgeübt wird. Jede andre
Herrschaft ist Tyrannei und verdirbt sowohl den, der sie erleidet, wie den, der
sie ausübt."




Dante

s kli
ngt beinahe wie eine Fiktion, daß sich heute in unserm zer¬
streuenden Leben noch Leute, die nicht Romanisten oder Litteratur¬
historiker von Beruf find, mit Dante abgeben, und doch muß es
wohl so sein, und geschähe es auch nur um des Scheins willen,
den ein so sublimes Geschüft um die ganze Persönlichkeit webt,
wie ja auch Frauen manchmal nur sticken sollen, um die Bewegungen ihrer
schönen Hand zu zeigen. Sonst könnten nicht immer wieder Bücher geschrieben


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[0608] Dante ihn zum höchsten Zweck und Inhalt des Lebens zu machen. Es verwehrt nicht das Streben nach Besitz, sondern verkündet nur, daß es denen übel er¬ geb» werde, die es nicht verstehn, sich mit dem ungerechten Mammon Freunde zu machen. Es zeigt einen über das Gewöhnliche hinaufführenden höhern und höchsten Weg der Entsagung um des Apostolats willen oder aus Nächsten¬ liebe, sagt aber ausdrücklich, daß er nur für die wenigen Auserwühlten be¬ stimmt sei, denen Gott die Kraft gebe, ihn zu wandeln. Die Klippe, an der das Schifflein der hellenischen Weisheitssucher zerschellt ist, wird vom Neuen Testament in der Weise umschifft, daß es lehrt, es sei gar nicht Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft, die Gerechtigkeit zu verwirklichen; dieses geschehe im Reiche Gottes; das Reich Gottes und die Welt aber seien zwei verschiedne Reiche, deren jedes nach eignen Gesetzen lebe. Meine Vermutung über das Verhältnis dieser beiden Reiche zu einander und über ihre gegenseitigen Beziehungen habe ich bei verschiednen Gelegen¬ heiten, besonders im „Sinn des Christentums" ausgesprochen. Regeln für das Verhalten des Christen in verschiednen Lebenslagen und verschiednen Personen und Klassen gegenüber, also was man gewöhnlich Moralvorschriften nennt, haben Unzählige aus dem Neuen Testament abgeleitet und in unzähligen Büchern niedergelegt, von denen sich viele, wie die Katechismen, eines amt¬ lichen Charakters rühmen dürfen. Unter allen diesen Arbeiten aber kenne ich keine, die so zeitgemäß wären und den Lebensodem des Neuen Testaments so deutlich verspüren ließen wie die kleinen Bücher Hiltys. Mit einer seiner Regeln, die in mehr als einem Sinne zeitgemäß ist, will ich schließen. „Der allein richtige Grundsatz im Verkehr mit den Menschen, ja man kann sagen mit allen Geschöpfen Gottes ist: keines unnötig plagen, mit allen Mitleid em¬ pfinden und jedem Ruhe und Lebensfreude gönnen; aber auch zu verlangen, daß es seine Pflicht erfülle und nicht bloß dem Genusse leben wolle. In dem zuletzt genannten liegt das Recht der Erziehung und Zähmung gegenüber dein Naturrecht der Freiheit; das Recht der Eroberung wilder oder halbwilder Ge¬ biete; das relative Recht der Aristokratie und der Herrschaft über Menschen, insofern es nämlich zum Vorteil der Beherrschten ausgeübt wird. Jede andre Herrschaft ist Tyrannei und verdirbt sowohl den, der sie erleidet, wie den, der sie ausübt." Dante s kli ngt beinahe wie eine Fiktion, daß sich heute in unserm zer¬ streuenden Leben noch Leute, die nicht Romanisten oder Litteratur¬ historiker von Beruf find, mit Dante abgeben, und doch muß es wohl so sein, und geschähe es auch nur um des Scheins willen, den ein so sublimes Geschüft um die ganze Persönlichkeit webt, wie ja auch Frauen manchmal nur sticken sollen, um die Bewegungen ihrer schönen Hand zu zeigen. Sonst könnten nicht immer wieder Bücher geschrieben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/608>, abgerufen am 29.04.2024.