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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Die Weltlage am Jahresanfang

in Jahresanfang geziemt sich schon im bürgerlichen Leben ein
Rückblick und ein Vorblick, geschweige denn in den großen Be¬
ziehungen der Völker. Überraschende, grnndstürzende Wendungen
hat das abgelanfne Jahr 1901 nicht gebracht, aber die Entwick¬
lung ist doch nach einer bestimmten Richtung hin weiter vor¬
geschritten. Die Kämpfe in China sind im Sinne der fremden Mächte beendet
worden, aber der südafrikanische Krieg dauert immer noch fort, endlos, er¬
gebnislos, ja im Grnnde zwecklos. Denn das Land, um dessen Besitz er ge¬
führt wird, ist heute schon auf ein Menschenalter hinaus ruiniert, und das
unglückliche Heldenvolk, das er unterwerfen soll, das scheint zur einen Hälfte
dein Untergange geweiht, dank der brutalen oder unfähigen englischen Krieg¬
führung und Verwaltung, die uicht einmal davor zurückschreckt oder wenigstens
nicht verhindern kann, daß die gefangnen Weiber und Kinder in den berüch¬
tigten "Konzentrationslagern" zu Tausenden hinsterben, also die Zukunft der
kleinen Nation vernichtet wird; in der andern, der noch verzweifelt fechtenden
Hälfte aber, die wenigstens in starken Resten den Krieg überleben wird, ist
ein so unversöhnlicher Haß gegen alles, was englisch heißt, erwachsen, daß er
jede innerliche Annäherung der beiden europäischen Rassel? in Südafrika für
absehbare Zeiten unmöglich macht. Gegen diese Kriegführung, nicht nur gegen
die englische Eroberungspolitik, die England selbst am tiefsten schädigt, weil sie,
abgesehen von den ungeheuern Opfern an Geld und Blut für ein mich auf
friedlichem Wege sicher, obgleich langsamer erreichbares Ziel, nämlich für die
Vorherrschaft des englischen Elements und der englischen Kultur in Südafrika,
auch den militärischen Ruf, das "Prestige" Großbritanniens tief erschüttert
hat, richtet sich in unerhörter Einmütigkeit die einfach menschliche Empfindung
der gesamten zivilisierten Welt, nicht das politische Interesse. Das verkennt
man jenseits des Kanals gründlich, wenn man sich über den "allgemeinen Haß"
gegen England beklagt. Dieser Haß gilt gar nicht dem englischen Volke,
sondern der Politik und der Kriegführung, die es sich selbst, im Widerspruch
mit seinen eignen besten und größten Überlieferungen, gefallen läßt.

Aber auf der andern Seite verkennt man die Lage, wenn man ein Ein¬
schreiten der neutralen Mächte verlangt oder auch nur für möglich hält. Oft genug


Grenzboten I 1902 1


Die Weltlage am Jahresanfang

in Jahresanfang geziemt sich schon im bürgerlichen Leben ein
Rückblick und ein Vorblick, geschweige denn in den großen Be¬
ziehungen der Völker. Überraschende, grnndstürzende Wendungen
hat das abgelanfne Jahr 1901 nicht gebracht, aber die Entwick¬
lung ist doch nach einer bestimmten Richtung hin weiter vor¬
geschritten. Die Kämpfe in China sind im Sinne der fremden Mächte beendet
worden, aber der südafrikanische Krieg dauert immer noch fort, endlos, er¬
gebnislos, ja im Grnnde zwecklos. Denn das Land, um dessen Besitz er ge¬
führt wird, ist heute schon auf ein Menschenalter hinaus ruiniert, und das
unglückliche Heldenvolk, das er unterwerfen soll, das scheint zur einen Hälfte
dein Untergange geweiht, dank der brutalen oder unfähigen englischen Krieg¬
führung und Verwaltung, die uicht einmal davor zurückschreckt oder wenigstens
nicht verhindern kann, daß die gefangnen Weiber und Kinder in den berüch¬
tigten „Konzentrationslagern" zu Tausenden hinsterben, also die Zukunft der
kleinen Nation vernichtet wird; in der andern, der noch verzweifelt fechtenden
Hälfte aber, die wenigstens in starken Resten den Krieg überleben wird, ist
ein so unversöhnlicher Haß gegen alles, was englisch heißt, erwachsen, daß er
jede innerliche Annäherung der beiden europäischen Rassel? in Südafrika für
absehbare Zeiten unmöglich macht. Gegen diese Kriegführung, nicht nur gegen
die englische Eroberungspolitik, die England selbst am tiefsten schädigt, weil sie,
abgesehen von den ungeheuern Opfern an Geld und Blut für ein mich auf
friedlichem Wege sicher, obgleich langsamer erreichbares Ziel, nämlich für die
Vorherrschaft des englischen Elements und der englischen Kultur in Südafrika,
auch den militärischen Ruf, das „Prestige" Großbritanniens tief erschüttert
hat, richtet sich in unerhörter Einmütigkeit die einfach menschliche Empfindung
der gesamten zivilisierten Welt, nicht das politische Interesse. Das verkennt
man jenseits des Kanals gründlich, wenn man sich über den „allgemeinen Haß"
gegen England beklagt. Dieser Haß gilt gar nicht dem englischen Volke,
sondern der Politik und der Kriegführung, die es sich selbst, im Widerspruch
mit seinen eignen besten und größten Überlieferungen, gefallen läßt.

Aber auf der andern Seite verkennt man die Lage, wenn man ein Ein¬
schreiten der neutralen Mächte verlangt oder auch nur für möglich hält. Oft genug


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[0009] [Abbildung] Die Weltlage am Jahresanfang in Jahresanfang geziemt sich schon im bürgerlichen Leben ein Rückblick und ein Vorblick, geschweige denn in den großen Be¬ ziehungen der Völker. Überraschende, grnndstürzende Wendungen hat das abgelanfne Jahr 1901 nicht gebracht, aber die Entwick¬ lung ist doch nach einer bestimmten Richtung hin weiter vor¬ geschritten. Die Kämpfe in China sind im Sinne der fremden Mächte beendet worden, aber der südafrikanische Krieg dauert immer noch fort, endlos, er¬ gebnislos, ja im Grnnde zwecklos. Denn das Land, um dessen Besitz er ge¬ führt wird, ist heute schon auf ein Menschenalter hinaus ruiniert, und das unglückliche Heldenvolk, das er unterwerfen soll, das scheint zur einen Hälfte dein Untergange geweiht, dank der brutalen oder unfähigen englischen Krieg¬ führung und Verwaltung, die uicht einmal davor zurückschreckt oder wenigstens nicht verhindern kann, daß die gefangnen Weiber und Kinder in den berüch¬ tigten „Konzentrationslagern" zu Tausenden hinsterben, also die Zukunft der kleinen Nation vernichtet wird; in der andern, der noch verzweifelt fechtenden Hälfte aber, die wenigstens in starken Resten den Krieg überleben wird, ist ein so unversöhnlicher Haß gegen alles, was englisch heißt, erwachsen, daß er jede innerliche Annäherung der beiden europäischen Rassel? in Südafrika für absehbare Zeiten unmöglich macht. Gegen diese Kriegführung, nicht nur gegen die englische Eroberungspolitik, die England selbst am tiefsten schädigt, weil sie, abgesehen von den ungeheuern Opfern an Geld und Blut für ein mich auf friedlichem Wege sicher, obgleich langsamer erreichbares Ziel, nämlich für die Vorherrschaft des englischen Elements und der englischen Kultur in Südafrika, auch den militärischen Ruf, das „Prestige" Großbritanniens tief erschüttert hat, richtet sich in unerhörter Einmütigkeit die einfach menschliche Empfindung der gesamten zivilisierten Welt, nicht das politische Interesse. Das verkennt man jenseits des Kanals gründlich, wenn man sich über den „allgemeinen Haß" gegen England beklagt. Dieser Haß gilt gar nicht dem englischen Volke, sondern der Politik und der Kriegführung, die es sich selbst, im Widerspruch mit seinen eignen besten und größten Überlieferungen, gefallen läßt. Aber auf der andern Seite verkennt man die Lage, wenn man ein Ein¬ schreiten der neutralen Mächte verlangt oder auch nur für möglich hält. Oft genug Grenzboten I 1902 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/9>, abgerufen am 28.04.2024.