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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Wissenschaft und Praxis auf dem Gebiete der Steno¬
graphie

WM
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it^S^meer dem Titel "Stenographie-Schwindel" wendet sich Eduard
Engel, "Vorsteher des amtlichen Stenographenlmrcaus des
deutschen Reichstags," in Ur. 10 der "Zukunft" in sehr scharfer
Weise gegen die Erfinder neuerer stenographischer Systeme, indem
er ihre Produkte als wertlos hinstellt und sie selbst als ,,Ne-
klmneschwindler" bezeichnet. Als Erfinder der von ihm ausdrücklich genannten
"Nationalstenographie" gehöre ich zu den Angegriffnen; trotzdem liegt es mir
fern, mich als Beleidigten aufzuspielen und die Angelegenheit so zu einer per¬
sönlichen zu machen. In der stenographischen Welt werden die Ausfälle Engels
nicht ernst genommen. Wir haben in Deutschland vier große Stcnographie-
schnlcn: Gabclsbergcr, Stolze-Schrey, Stenotachygraphie und Nationalsteno-
graphie, mit etwa 3000 Vereinen, und diese sind einig in der Ablehnung des
von Engel vertretnen Standpunktes. Nur für einzelne seiner Behauptungen
dürfte er bei der zuerst genannten ältesten Schule Beifall finden; die ganze
Tendenz seines Aufsatzes steht jedoch in zu offenbarem Widerspruch mit der
modernen stenographischen Entwicklung, als daß ich Veranlassung hätte, vor
Fachleuten näher darauf einzugehn. Bedeutung gewinnen sie nur dadurch, daß
sie in einer gelesenen Wochenschrift einem großen nicht sachverständigen Leser¬
kreise unterbreitet werden, der natürlich geneigt ist, die Berufung auf einen so
gewichtigen amtlichen Titel und auf eine "einunddreißigjührige Praxis als
Parlamentsstenograph" als beweiskräftig anzuerkennen. In Wahrheit hätte
Engel wohl vor fünfundzwanzig Jahren den Anspruch erheben können, als Auto¬
rität auf dem stenographischen Gebiet angesehen zu werden, unterdes aber haben
sich die Verhältnisse völlig verschoben und ihn in die Rolle eines Spezialisten
gedrängt. Andre in ähnlicher Lage sind in Berührung mit der ganzen steno¬
graphischen Bewegung geblieben und haben sich den vollen Überblick gewahrt.
Ihm ist die große stenographische Revolution der letzten Jahre trotz ihrer weit
zurückreichenden Vorbereitung überraschend gekommen, und nun weiß er sich
nicht anders mit ihr abzufinden, als daß er die Schale seines Zorns über die
verderbte Jugend ausgießt und das Lob der guten alten Zeit singt. Bei seiner
unleugbar hervorragenden praktischen Erfahrung ist es aber ganz selbstver¬
ständlich, daß seine Ausführungen eine Reihe unzweifelhafter Wahrheiten ent¬
halten, die auch von keinem Fachmanne bestritten werden. Vermischt mit un¬
richtigen Anschauungen werden sie jedoch zu falschen Schlüssen verwandt, die
für den Laien etwas Bestechendes haben. Bei der wachsenden Bedeutung der
Stenographie im öffentlichen wie im privaten Leben und bei dem zunehmenden




Wissenschaft und Praxis auf dem Gebiete der Steno¬
graphie

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it^S^meer dem Titel „Stenographie-Schwindel" wendet sich Eduard
Engel, „Vorsteher des amtlichen Stenographenlmrcaus des
deutschen Reichstags," in Ur. 10 der „Zukunft" in sehr scharfer
Weise gegen die Erfinder neuerer stenographischer Systeme, indem
er ihre Produkte als wertlos hinstellt und sie selbst als ,,Ne-
klmneschwindler" bezeichnet. Als Erfinder der von ihm ausdrücklich genannten
„Nationalstenographie" gehöre ich zu den Angegriffnen; trotzdem liegt es mir
fern, mich als Beleidigten aufzuspielen und die Angelegenheit so zu einer per¬
sönlichen zu machen. In der stenographischen Welt werden die Ausfälle Engels
nicht ernst genommen. Wir haben in Deutschland vier große Stcnographie-
schnlcn: Gabclsbergcr, Stolze-Schrey, Stenotachygraphie und Nationalsteno-
graphie, mit etwa 3000 Vereinen, und diese sind einig in der Ablehnung des
von Engel vertretnen Standpunktes. Nur für einzelne seiner Behauptungen
dürfte er bei der zuerst genannten ältesten Schule Beifall finden; die ganze
Tendenz seines Aufsatzes steht jedoch in zu offenbarem Widerspruch mit der
modernen stenographischen Entwicklung, als daß ich Veranlassung hätte, vor
Fachleuten näher darauf einzugehn. Bedeutung gewinnen sie nur dadurch, daß
sie in einer gelesenen Wochenschrift einem großen nicht sachverständigen Leser¬
kreise unterbreitet werden, der natürlich geneigt ist, die Berufung auf einen so
gewichtigen amtlichen Titel und auf eine „einunddreißigjührige Praxis als
Parlamentsstenograph" als beweiskräftig anzuerkennen. In Wahrheit hätte
Engel wohl vor fünfundzwanzig Jahren den Anspruch erheben können, als Auto¬
rität auf dem stenographischen Gebiet angesehen zu werden, unterdes aber haben
sich die Verhältnisse völlig verschoben und ihn in die Rolle eines Spezialisten
gedrängt. Andre in ähnlicher Lage sind in Berührung mit der ganzen steno¬
graphischen Bewegung geblieben und haben sich den vollen Überblick gewahrt.
Ihm ist die große stenographische Revolution der letzten Jahre trotz ihrer weit
zurückreichenden Vorbereitung überraschend gekommen, und nun weiß er sich
nicht anders mit ihr abzufinden, als daß er die Schale seines Zorns über die
verderbte Jugend ausgießt und das Lob der guten alten Zeit singt. Bei seiner
unleugbar hervorragenden praktischen Erfahrung ist es aber ganz selbstver¬
ständlich, daß seine Ausführungen eine Reihe unzweifelhafter Wahrheiten ent¬
halten, die auch von keinem Fachmanne bestritten werden. Vermischt mit un¬
richtigen Anschauungen werden sie jedoch zu falschen Schlüssen verwandt, die
für den Laien etwas Bestechendes haben. Bei der wachsenden Bedeutung der
Stenographie im öffentlichen wie im privaten Leben und bei dem zunehmenden


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[0260] [Abbildung] Wissenschaft und Praxis auf dem Gebiete der Steno¬ graphie WM GU»'/ it^S^meer dem Titel „Stenographie-Schwindel" wendet sich Eduard Engel, „Vorsteher des amtlichen Stenographenlmrcaus des deutschen Reichstags," in Ur. 10 der „Zukunft" in sehr scharfer Weise gegen die Erfinder neuerer stenographischer Systeme, indem er ihre Produkte als wertlos hinstellt und sie selbst als ,,Ne- klmneschwindler" bezeichnet. Als Erfinder der von ihm ausdrücklich genannten „Nationalstenographie" gehöre ich zu den Angegriffnen; trotzdem liegt es mir fern, mich als Beleidigten aufzuspielen und die Angelegenheit so zu einer per¬ sönlichen zu machen. In der stenographischen Welt werden die Ausfälle Engels nicht ernst genommen. Wir haben in Deutschland vier große Stcnographie- schnlcn: Gabclsbergcr, Stolze-Schrey, Stenotachygraphie und Nationalsteno- graphie, mit etwa 3000 Vereinen, und diese sind einig in der Ablehnung des von Engel vertretnen Standpunktes. Nur für einzelne seiner Behauptungen dürfte er bei der zuerst genannten ältesten Schule Beifall finden; die ganze Tendenz seines Aufsatzes steht jedoch in zu offenbarem Widerspruch mit der modernen stenographischen Entwicklung, als daß ich Veranlassung hätte, vor Fachleuten näher darauf einzugehn. Bedeutung gewinnen sie nur dadurch, daß sie in einer gelesenen Wochenschrift einem großen nicht sachverständigen Leser¬ kreise unterbreitet werden, der natürlich geneigt ist, die Berufung auf einen so gewichtigen amtlichen Titel und auf eine „einunddreißigjührige Praxis als Parlamentsstenograph" als beweiskräftig anzuerkennen. In Wahrheit hätte Engel wohl vor fünfundzwanzig Jahren den Anspruch erheben können, als Auto¬ rität auf dem stenographischen Gebiet angesehen zu werden, unterdes aber haben sich die Verhältnisse völlig verschoben und ihn in die Rolle eines Spezialisten gedrängt. Andre in ähnlicher Lage sind in Berührung mit der ganzen steno¬ graphischen Bewegung geblieben und haben sich den vollen Überblick gewahrt. Ihm ist die große stenographische Revolution der letzten Jahre trotz ihrer weit zurückreichenden Vorbereitung überraschend gekommen, und nun weiß er sich nicht anders mit ihr abzufinden, als daß er die Schale seines Zorns über die verderbte Jugend ausgießt und das Lob der guten alten Zeit singt. Bei seiner unleugbar hervorragenden praktischen Erfahrung ist es aber ganz selbstver¬ ständlich, daß seine Ausführungen eine Reihe unzweifelhafter Wahrheiten ent¬ halten, die auch von keinem Fachmanne bestritten werden. Vermischt mit un¬ richtigen Anschauungen werden sie jedoch zu falschen Schlüssen verwandt, die für den Laien etwas Bestechendes haben. Bei der wachsenden Bedeutung der Stenographie im öffentlichen wie im privaten Leben und bei dem zunehmenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/260>, abgerufen am 29.04.2024.