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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Die wirtschaftliche Rettung ^üditaliens

enden der königstreue Demokrat Giuseppe Zannrdelli die Leitung
des italienischen Gesamtimnisteriums übernommen hat, und
Guido Baecelli das Ackerbauministerium, ist die soziale Reform-
bewegung lebhafter in Gang gekommen. Die Thronrede hat
die Herabsetzung der überaus drückenden Salzstener verheißen,
dem Parlament ist ein Gesetzentwurf über die Frauen- und Kinderarbeit, ein
andrer über die Einsetzung von "Vertrauensmännern" (proviviri) für die
Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Grundbesitzern, Pächtern und Land-
nrbeitern zugegangen, und der Abgeordnete Maggiorino Ferraris, der frühere
Direktor im Verkehrsministerium (1883), hat einen dritten über eine gründliche
Reform der Agrarverhültnisse eingereicht, deren unbedingte Notwendigkeit von
keiner Seite verkannt werden kann und verkannt wird. Denn eine neue
dringende Mahnung dazu liegt vor allem in der großen Ausstandsbewegung, die
in diesem Frühjahr wieder durch einen bedeutenden Teil Oberitaliens gegangen
ist. Seitdem dort von der Provinz Mantua aus die von den Sozialisten
organisierten IlSssbö al iniM0rg.w6ut() und al rvsistön^iZ. für die Verbesserung
in der Lage der ländlichen Arbeiterbevölkerung immer weiter um sich gegriffen
haben, steht diese den Besitzern und Großpüchtern in großen, geschlossenen, straff
disziplinierten Organisationen gegenüber. (Vgl. Grenzboten 1901, 2. Quartal,
S. 382 f.) Im November 1901 versammelte sich auf oberitalienischen Boden,
in Bologna, der erste italienische Bnuernkvngreß. Acht- bis neunhundert Abge¬
sandte, darunter etwa hundert Frauen, vertraten dabei über 800 Banernvereine
aus dein ganzen Lande mit 100000 Mitgliedern und verhandelten über die
Einrichtung eines gemeinsamen statistischen Amtes, die Einführung von Schieds¬
gerichten und die Notwendigkeit einer Agrarreform, nüchtern und besonnen,
ohne sich in sozialdemvkmtische Utopien einzulassen. Dein gegenüber sammelten
sich aber auch die Besitzenden, wenigstens in dem von den Ideen des Sozia¬
lismus besonders durchdrungnen Potieflande. Etwa 700 von ihnen traten
zu Anfang Februar 1902 zu einem "agrarischen Kongreß" in Verona zu¬
sammen, Männer aus den Gebieten von Verona, Mantua, Modena, Padua,
Forli, Ravenna, Rovigo, dem Polesine (der Landschaft links vom untersten


Grenzboten U 1902 87


Die wirtschaftliche Rettung ^üditaliens

enden der königstreue Demokrat Giuseppe Zannrdelli die Leitung
des italienischen Gesamtimnisteriums übernommen hat, und
Guido Baecelli das Ackerbauministerium, ist die soziale Reform-
bewegung lebhafter in Gang gekommen. Die Thronrede hat
die Herabsetzung der überaus drückenden Salzstener verheißen,
dem Parlament ist ein Gesetzentwurf über die Frauen- und Kinderarbeit, ein
andrer über die Einsetzung von „Vertrauensmännern" (proviviri) für die
Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Grundbesitzern, Pächtern und Land-
nrbeitern zugegangen, und der Abgeordnete Maggiorino Ferraris, der frühere
Direktor im Verkehrsministerium (1883), hat einen dritten über eine gründliche
Reform der Agrarverhültnisse eingereicht, deren unbedingte Notwendigkeit von
keiner Seite verkannt werden kann und verkannt wird. Denn eine neue
dringende Mahnung dazu liegt vor allem in der großen Ausstandsbewegung, die
in diesem Frühjahr wieder durch einen bedeutenden Teil Oberitaliens gegangen
ist. Seitdem dort von der Provinz Mantua aus die von den Sozialisten
organisierten IlSssbö al iniM0rg.w6ut() und al rvsistön^iZ. für die Verbesserung
in der Lage der ländlichen Arbeiterbevölkerung immer weiter um sich gegriffen
haben, steht diese den Besitzern und Großpüchtern in großen, geschlossenen, straff
disziplinierten Organisationen gegenüber. (Vgl. Grenzboten 1901, 2. Quartal,
S. 382 f.) Im November 1901 versammelte sich auf oberitalienischen Boden,
in Bologna, der erste italienische Bnuernkvngreß. Acht- bis neunhundert Abge¬
sandte, darunter etwa hundert Frauen, vertraten dabei über 800 Banernvereine
aus dein ganzen Lande mit 100000 Mitgliedern und verhandelten über die
Einrichtung eines gemeinsamen statistischen Amtes, die Einführung von Schieds¬
gerichten und die Notwendigkeit einer Agrarreform, nüchtern und besonnen,
ohne sich in sozialdemvkmtische Utopien einzulassen. Dein gegenüber sammelten
sich aber auch die Besitzenden, wenigstens in dem von den Ideen des Sozia¬
lismus besonders durchdrungnen Potieflande. Etwa 700 von ihnen traten
zu Anfang Februar 1902 zu einem „agrarischen Kongreß" in Verona zu¬
sammen, Männer aus den Gebieten von Verona, Mantua, Modena, Padua,
Forli, Ravenna, Rovigo, dem Polesine (der Landschaft links vom untersten


Grenzboten U 1902 87
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/297>, abgerufen am 29.04.2024.