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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Aursächsische Streifzüge

bei dem die ganze Erziehungskunst darauf hinauslief, aus den Fehlern der
Extemporalien die Mittelwerte herauszuziehn, war in den letzten Jahren
geradezu unerträglich geworden. Es muß anerkannt werden, daß dies durch die
neue Versetzungsordnuug in Preußen besser geworden ist oder mindestens besser
werden soll. Aber es muß noch viel mehr in der Richtung geschehn, daß
man den Schüler nicht als Material, sondern als lebendigen und individuell
gestalteten Menschen ansieht; man muß sich darauf besinnen, daß der Schüler
nicht für die Schule da ist, soudern die Schule für den Schüler. Was heute
der gestrenge Herr Schulrat als Lotterei ansehen würde, das war einst der
eigentümliche Vorzug des ältern Gymnasiums, das erlaubte einst, den Schüler
als Einzelperson zu behandeln und zu beurteilen. Wir alle haben den einen
oder den andern unsrer Lehrer in dankbarer Erinnerung; das waren aber
nicht Leute, die reglementierten und schematisierten. Wir meinen also, es
ist nicht so sehr nötig, die Lehrpläne zu beschränken, als sie verständig zu
benutzen.




Kursächsische ^treifzüge
V.L.Schmidt von3. N)ittenberg

ittenberg kann nicht wie Torgau auf eine vor der deutschen Ein-
wcmdrung liegende Geschichte zurückschallen. Es ist vielmehr, wie
schon der Name (Wittenberg---Weißenberg) zeigt, eine Gründung
niederdeutscher Bürger lind Bauern. Sturmfluten, wie sie schließlich
um das Jahr 1200 zum Einbruch der Nordsee in den ursprünglich
binnenländischen Zuvdersee führten, und andre Nöte bewirken
seit der Mitte des zwölften Jahrhunderts eine stärkere Einwandrnng aus
den Niederlanden, dem alten Gebiete der Friesen und der salischen Franken,
ins lnitteldeutsche Binnenland, wo diese "Fläininge" von den Askaniern
lind dem Erzbischof Wichmann von Magdeburg gern aufgenommen und in
den durch die Slawenkriege verödeten Landstrichen zwischen der untern
Mulde, Elbe und Schwarzen Elster als Kolonisten angesiedelt werden. Deshalb
heißt z. B. der von Wittenberg über Jüterbogk nach Dahme lind Schlieben
zu streichende Höhenzug noch heute der "Flliming." Die Niederländer, in
unaufhörlichen Kämpfen mit dem Ungestüm des landverschlingenden Meeres
geübt, Meister im Deichbau und in der Handhabung der Wasserwage, waren
die rechten Ansiedler für diese Gegenden, wo es auch wieder den Kampf mit
dem Wasser aufzunehmen galt; nur war dieser Kampf in demselben Maße
gefahrloser und erfolgreicher, wie die genannten Flüsse sanfter sind als die
Nordsee. In den Orten, die sie gründeten, schufen sie sich, so gut es ging,
ein Abbild der Heimat, und wie sich später die holländischen und die englischen
Einwandrer in Nordamerika ein Neu-Amsterdam (1614), ein Plymouth (1620),
ein Portsmouth und ein Dover (1633) erbauten, so benannten auch die nieder¬
ländischen Kolonisten der Elbgegenden ihre bescheidnen Städte und Dörfer
mit heimischen Namen: dem flämischen Brügge entspricht das Städtlein
Brück, dem stolzen Gent das magdeburgische Genthin, dem uralte" Doornik
(Tournay) das schlichte Dornau, dem niederrheinischen Kemerich die Propstei


Aursächsische Streifzüge

bei dem die ganze Erziehungskunst darauf hinauslief, aus den Fehlern der
Extemporalien die Mittelwerte herauszuziehn, war in den letzten Jahren
geradezu unerträglich geworden. Es muß anerkannt werden, daß dies durch die
neue Versetzungsordnuug in Preußen besser geworden ist oder mindestens besser
werden soll. Aber es muß noch viel mehr in der Richtung geschehn, daß
man den Schüler nicht als Material, sondern als lebendigen und individuell
gestalteten Menschen ansieht; man muß sich darauf besinnen, daß der Schüler
nicht für die Schule da ist, soudern die Schule für den Schüler. Was heute
der gestrenge Herr Schulrat als Lotterei ansehen würde, das war einst der
eigentümliche Vorzug des ältern Gymnasiums, das erlaubte einst, den Schüler
als Einzelperson zu behandeln und zu beurteilen. Wir alle haben den einen
oder den andern unsrer Lehrer in dankbarer Erinnerung; das waren aber
nicht Leute, die reglementierten und schematisierten. Wir meinen also, es
ist nicht so sehr nötig, die Lehrpläne zu beschränken, als sie verständig zu
benutzen.




Kursächsische ^treifzüge
V.L.Schmidt von3. N)ittenberg

ittenberg kann nicht wie Torgau auf eine vor der deutschen Ein-
wcmdrung liegende Geschichte zurückschallen. Es ist vielmehr, wie
schon der Name (Wittenberg---Weißenberg) zeigt, eine Gründung
niederdeutscher Bürger lind Bauern. Sturmfluten, wie sie schließlich
um das Jahr 1200 zum Einbruch der Nordsee in den ursprünglich
binnenländischen Zuvdersee führten, und andre Nöte bewirken
seit der Mitte des zwölften Jahrhunderts eine stärkere Einwandrnng aus
den Niederlanden, dem alten Gebiete der Friesen und der salischen Franken,
ins lnitteldeutsche Binnenland, wo diese „Fläininge" von den Askaniern
lind dem Erzbischof Wichmann von Magdeburg gern aufgenommen und in
den durch die Slawenkriege verödeten Landstrichen zwischen der untern
Mulde, Elbe und Schwarzen Elster als Kolonisten angesiedelt werden. Deshalb
heißt z. B. der von Wittenberg über Jüterbogk nach Dahme lind Schlieben
zu streichende Höhenzug noch heute der „Flliming." Die Niederländer, in
unaufhörlichen Kämpfen mit dem Ungestüm des landverschlingenden Meeres
geübt, Meister im Deichbau und in der Handhabung der Wasserwage, waren
die rechten Ansiedler für diese Gegenden, wo es auch wieder den Kampf mit
dem Wasser aufzunehmen galt; nur war dieser Kampf in demselben Maße
gefahrloser und erfolgreicher, wie die genannten Flüsse sanfter sind als die
Nordsee. In den Orten, die sie gründeten, schufen sie sich, so gut es ging,
ein Abbild der Heimat, und wie sich später die holländischen und die englischen
Einwandrer in Nordamerika ein Neu-Amsterdam (1614), ein Plymouth (1620),
ein Portsmouth und ein Dover (1633) erbauten, so benannten auch die nieder¬
ländischen Kolonisten der Elbgegenden ihre bescheidnen Städte und Dörfer
mit heimischen Namen: dem flämischen Brügge entspricht das Städtlein
Brück, dem stolzen Gent das magdeburgische Genthin, dem uralte» Doornik
(Tournay) das schlichte Dornau, dem niederrheinischen Kemerich die Propstei


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[0492] Aursächsische Streifzüge bei dem die ganze Erziehungskunst darauf hinauslief, aus den Fehlern der Extemporalien die Mittelwerte herauszuziehn, war in den letzten Jahren geradezu unerträglich geworden. Es muß anerkannt werden, daß dies durch die neue Versetzungsordnuug in Preußen besser geworden ist oder mindestens besser werden soll. Aber es muß noch viel mehr in der Richtung geschehn, daß man den Schüler nicht als Material, sondern als lebendigen und individuell gestalteten Menschen ansieht; man muß sich darauf besinnen, daß der Schüler nicht für die Schule da ist, soudern die Schule für den Schüler. Was heute der gestrenge Herr Schulrat als Lotterei ansehen würde, das war einst der eigentümliche Vorzug des ältern Gymnasiums, das erlaubte einst, den Schüler als Einzelperson zu behandeln und zu beurteilen. Wir alle haben den einen oder den andern unsrer Lehrer in dankbarer Erinnerung; das waren aber nicht Leute, die reglementierten und schematisierten. Wir meinen also, es ist nicht so sehr nötig, die Lehrpläne zu beschränken, als sie verständig zu benutzen. Kursächsische ^treifzüge V.L.Schmidt von3. N)ittenberg ittenberg kann nicht wie Torgau auf eine vor der deutschen Ein- wcmdrung liegende Geschichte zurückschallen. Es ist vielmehr, wie schon der Name (Wittenberg---Weißenberg) zeigt, eine Gründung niederdeutscher Bürger lind Bauern. Sturmfluten, wie sie schließlich um das Jahr 1200 zum Einbruch der Nordsee in den ursprünglich binnenländischen Zuvdersee führten, und andre Nöte bewirken seit der Mitte des zwölften Jahrhunderts eine stärkere Einwandrnng aus den Niederlanden, dem alten Gebiete der Friesen und der salischen Franken, ins lnitteldeutsche Binnenland, wo diese „Fläininge" von den Askaniern lind dem Erzbischof Wichmann von Magdeburg gern aufgenommen und in den durch die Slawenkriege verödeten Landstrichen zwischen der untern Mulde, Elbe und Schwarzen Elster als Kolonisten angesiedelt werden. Deshalb heißt z. B. der von Wittenberg über Jüterbogk nach Dahme lind Schlieben zu streichende Höhenzug noch heute der „Flliming." Die Niederländer, in unaufhörlichen Kämpfen mit dem Ungestüm des landverschlingenden Meeres geübt, Meister im Deichbau und in der Handhabung der Wasserwage, waren die rechten Ansiedler für diese Gegenden, wo es auch wieder den Kampf mit dem Wasser aufzunehmen galt; nur war dieser Kampf in demselben Maße gefahrloser und erfolgreicher, wie die genannten Flüsse sanfter sind als die Nordsee. In den Orten, die sie gründeten, schufen sie sich, so gut es ging, ein Abbild der Heimat, und wie sich später die holländischen und die englischen Einwandrer in Nordamerika ein Neu-Amsterdam (1614), ein Plymouth (1620), ein Portsmouth und ein Dover (1633) erbauten, so benannten auch die nieder¬ ländischen Kolonisten der Elbgegenden ihre bescheidnen Städte und Dörfer mit heimischen Namen: dem flämischen Brügge entspricht das Städtlein Brück, dem stolzen Gent das magdeburgische Genthin, dem uralte» Doornik (Tournay) das schlichte Dornau, dem niederrheinischen Kemerich die Propstei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/492>, abgerufen am 29.04.2024.