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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Die Schwachbegabten auf den höhern Schulen

auch mit der Forderung der Herabsetzung der Lehrzicle, wenn darunter eine
allgemeine Verminderung des Lehrstoffs gemeint ist, darüber ließe sich streiten.
Offenbar herrscht in gewissen Schnlkreisen eine falsche Fiskalitüt und die
Meinung, als ob es die Aufgabe der Schule sei, den Staat vor zu vielen
Anwärtern auf seiue Stellen zu schützen, wozu nach Bedarf die Examcn-
schraube angezogen oder nachgelassen wird. Manche Direktoren halten es für
ihre Aufgabe, ihre Gymnasien zu entvölkern und hinauszuwerfen, was irgend
hinausgeworfen werden kann. Es ist schon gesagt worden, daß bei einer
so starken Durchsiebnng keineswegs das beste Schülermaterial übrig bleibt,
daß vielmehr gerade unter den einseitig begabten Schülern solche zu finden
find, die später besonders Tüchtiges leisten würden, wenn man sie nicht
beseitigte, und daß unter den Eins-eins-Schülern viele anzutreffen sind, die
Material in Menge zu schlucken vermögen, es aber später nie zur Selbständig¬
keit bringen. Wir halten es für ungerecht, die Examenschraubc je nach dem
Bedarf, also aus einem fremden, mit der Sache nicht zusammenhängenden
Grunde anzuziehn -- auch beim Fachexamen des Juristen oder Theologen,
ganz besouders aber beim Abiturienten- und Versetznngsexnmen. Wer ist
denn der Staat, wenn nicht der Inbegriff der Bürgerschaft? Der Staat hat
nicht das Recht, nach seinein Bedarf auszusieben und es den Ausgesiebten
unmöglich zu macheu, auf eigne Hand etwas zu werden. Auch die wirklich
nicht vollwertigen Schüler dürfen nicht als wertloses Material angesehen
werden. Es steckt in ihnen ein gutes Teil geistigen und materiellen National¬
vermögens, ein gutes Teil schwerer Leistung von Eltern, die, wie der Beamte,
ihren Söhnen nichts weiter als eine Schulbildung hinterlassen können. Der
Staat darf auch nicht müßig zuschauen, wenn durch zu hohe Anforderungen,
die von der Schule gestellt werden, das Geschlecht, das berufen ist, später des
Staates Ausgabe ans die Schultern zu nehmen, an seiner geistigen Kraft ge¬
schädigt wird.

Man entgegnet uns: Es werden ja aber thatsächlich keine höhern An¬
forderungen gestellt als vor vierzig Jahren. Das ist zuzugeben, wenn man
das berücksichtigt, was im Lehrplan steht. Aber wie wird es heute verlangt,
und wie wurde es damals verlangt? Man war sonst mit einer Leistung zu¬
frieden, in der sich manche ungültige Münze befand. Es gab damals Fächer,
in denen man sich ausruhn konnte, Lehrer, die nicht in Betracht kamen. Man
schwindelte sich durch. Wir, die wir damals zusammen auf dem Gymnasium
waren, haben uns fast alle durchgeschwindelt. Und die es nicht thaten, die
standen zwar bei dem Herrn Direktor, aber nicht bei ihren Mitschülern in
Achtung. Und das will auch etwas sagen. Jedermann weiß, daß man bei
einem Examen uicht alles wissen kann, was gefragt werden kann. Man muß
eben Glück haben. Ein Examen wird ohne Steigerung der Anforderungen ganz
bedeutend erschwert, wenn man erzwingt, daß es bar nud richtig geleistet
werde. Eine Schnllast wird ganz bedeutend vergrößert, wenn jedes Fach
gleichberechtigt neben das andre tritt. Die Last, die jetzt unsre Schüler
drückt, besteht darin, daß alles bar und richtig geleistet werden soll. Man
reglementiert zu viel, es geht zu sehr nach der Schablone. Der Schematismus,


Die Schwachbegabten auf den höhern Schulen

auch mit der Forderung der Herabsetzung der Lehrzicle, wenn darunter eine
allgemeine Verminderung des Lehrstoffs gemeint ist, darüber ließe sich streiten.
Offenbar herrscht in gewissen Schnlkreisen eine falsche Fiskalitüt und die
Meinung, als ob es die Aufgabe der Schule sei, den Staat vor zu vielen
Anwärtern auf seiue Stellen zu schützen, wozu nach Bedarf die Examcn-
schraube angezogen oder nachgelassen wird. Manche Direktoren halten es für
ihre Aufgabe, ihre Gymnasien zu entvölkern und hinauszuwerfen, was irgend
hinausgeworfen werden kann. Es ist schon gesagt worden, daß bei einer
so starken Durchsiebnng keineswegs das beste Schülermaterial übrig bleibt,
daß vielmehr gerade unter den einseitig begabten Schülern solche zu finden
find, die später besonders Tüchtiges leisten würden, wenn man sie nicht
beseitigte, und daß unter den Eins-eins-Schülern viele anzutreffen sind, die
Material in Menge zu schlucken vermögen, es aber später nie zur Selbständig¬
keit bringen. Wir halten es für ungerecht, die Examenschraubc je nach dem
Bedarf, also aus einem fremden, mit der Sache nicht zusammenhängenden
Grunde anzuziehn — auch beim Fachexamen des Juristen oder Theologen,
ganz besouders aber beim Abiturienten- und Versetznngsexnmen. Wer ist
denn der Staat, wenn nicht der Inbegriff der Bürgerschaft? Der Staat hat
nicht das Recht, nach seinein Bedarf auszusieben und es den Ausgesiebten
unmöglich zu macheu, auf eigne Hand etwas zu werden. Auch die wirklich
nicht vollwertigen Schüler dürfen nicht als wertloses Material angesehen
werden. Es steckt in ihnen ein gutes Teil geistigen und materiellen National¬
vermögens, ein gutes Teil schwerer Leistung von Eltern, die, wie der Beamte,
ihren Söhnen nichts weiter als eine Schulbildung hinterlassen können. Der
Staat darf auch nicht müßig zuschauen, wenn durch zu hohe Anforderungen,
die von der Schule gestellt werden, das Geschlecht, das berufen ist, später des
Staates Ausgabe ans die Schultern zu nehmen, an seiner geistigen Kraft ge¬
schädigt wird.

Man entgegnet uns: Es werden ja aber thatsächlich keine höhern An¬
forderungen gestellt als vor vierzig Jahren. Das ist zuzugeben, wenn man
das berücksichtigt, was im Lehrplan steht. Aber wie wird es heute verlangt,
und wie wurde es damals verlangt? Man war sonst mit einer Leistung zu¬
frieden, in der sich manche ungültige Münze befand. Es gab damals Fächer,
in denen man sich ausruhn konnte, Lehrer, die nicht in Betracht kamen. Man
schwindelte sich durch. Wir, die wir damals zusammen auf dem Gymnasium
waren, haben uns fast alle durchgeschwindelt. Und die es nicht thaten, die
standen zwar bei dem Herrn Direktor, aber nicht bei ihren Mitschülern in
Achtung. Und das will auch etwas sagen. Jedermann weiß, daß man bei
einem Examen uicht alles wissen kann, was gefragt werden kann. Man muß
eben Glück haben. Ein Examen wird ohne Steigerung der Anforderungen ganz
bedeutend erschwert, wenn man erzwingt, daß es bar nud richtig geleistet
werde. Eine Schnllast wird ganz bedeutend vergrößert, wenn jedes Fach
gleichberechtigt neben das andre tritt. Die Last, die jetzt unsre Schüler
drückt, besteht darin, daß alles bar und richtig geleistet werden soll. Man
reglementiert zu viel, es geht zu sehr nach der Schablone. Der Schematismus,


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[0491] Die Schwachbegabten auf den höhern Schulen auch mit der Forderung der Herabsetzung der Lehrzicle, wenn darunter eine allgemeine Verminderung des Lehrstoffs gemeint ist, darüber ließe sich streiten. Offenbar herrscht in gewissen Schnlkreisen eine falsche Fiskalitüt und die Meinung, als ob es die Aufgabe der Schule sei, den Staat vor zu vielen Anwärtern auf seiue Stellen zu schützen, wozu nach Bedarf die Examcn- schraube angezogen oder nachgelassen wird. Manche Direktoren halten es für ihre Aufgabe, ihre Gymnasien zu entvölkern und hinauszuwerfen, was irgend hinausgeworfen werden kann. Es ist schon gesagt worden, daß bei einer so starken Durchsiebnng keineswegs das beste Schülermaterial übrig bleibt, daß vielmehr gerade unter den einseitig begabten Schülern solche zu finden find, die später besonders Tüchtiges leisten würden, wenn man sie nicht beseitigte, und daß unter den Eins-eins-Schülern viele anzutreffen sind, die Material in Menge zu schlucken vermögen, es aber später nie zur Selbständig¬ keit bringen. Wir halten es für ungerecht, die Examenschraubc je nach dem Bedarf, also aus einem fremden, mit der Sache nicht zusammenhängenden Grunde anzuziehn — auch beim Fachexamen des Juristen oder Theologen, ganz besouders aber beim Abiturienten- und Versetznngsexnmen. Wer ist denn der Staat, wenn nicht der Inbegriff der Bürgerschaft? Der Staat hat nicht das Recht, nach seinein Bedarf auszusieben und es den Ausgesiebten unmöglich zu macheu, auf eigne Hand etwas zu werden. Auch die wirklich nicht vollwertigen Schüler dürfen nicht als wertloses Material angesehen werden. Es steckt in ihnen ein gutes Teil geistigen und materiellen National¬ vermögens, ein gutes Teil schwerer Leistung von Eltern, die, wie der Beamte, ihren Söhnen nichts weiter als eine Schulbildung hinterlassen können. Der Staat darf auch nicht müßig zuschauen, wenn durch zu hohe Anforderungen, die von der Schule gestellt werden, das Geschlecht, das berufen ist, später des Staates Ausgabe ans die Schultern zu nehmen, an seiner geistigen Kraft ge¬ schädigt wird. Man entgegnet uns: Es werden ja aber thatsächlich keine höhern An¬ forderungen gestellt als vor vierzig Jahren. Das ist zuzugeben, wenn man das berücksichtigt, was im Lehrplan steht. Aber wie wird es heute verlangt, und wie wurde es damals verlangt? Man war sonst mit einer Leistung zu¬ frieden, in der sich manche ungültige Münze befand. Es gab damals Fächer, in denen man sich ausruhn konnte, Lehrer, die nicht in Betracht kamen. Man schwindelte sich durch. Wir, die wir damals zusammen auf dem Gymnasium waren, haben uns fast alle durchgeschwindelt. Und die es nicht thaten, die standen zwar bei dem Herrn Direktor, aber nicht bei ihren Mitschülern in Achtung. Und das will auch etwas sagen. Jedermann weiß, daß man bei einem Examen uicht alles wissen kann, was gefragt werden kann. Man muß eben Glück haben. Ein Examen wird ohne Steigerung der Anforderungen ganz bedeutend erschwert, wenn man erzwingt, daß es bar nud richtig geleistet werde. Eine Schnllast wird ganz bedeutend vergrößert, wenn jedes Fach gleichberechtigt neben das andre tritt. Die Last, die jetzt unsre Schüler drückt, besteht darin, daß alles bar und richtig geleistet werden soll. Man reglementiert zu viel, es geht zu sehr nach der Schablone. Der Schematismus,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/491>, abgerufen am 16.05.2024.