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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Weltentwicklung und Weltschöpfung
Mit einem Anhang über Lyells und Darwins Gottesideen

er sechzigjährige erinnert sich an die Materialisten, die in den
fünfziger Jahren in Deutschland rumorten, wo sie von dem Über¬
druß an philosophischen Träumen Gewinn zogen. Er sieht vor
sich die zerlesenen Hefte und Bogen von Ludwig Büchner und
Karl Vogt, die er als Scholar unter der Tischkante studierte:
.Kraft und Stoff," "Köhlerglaube und Wissenschaft"; aber mit Ekel denkt er
heute an die Seichtigkeit ihres Inhalts zurück, die schon von dem ungeschulten
Geiste empfunden oder vielmehr nur geahnt wurde, wenn er am Schluß weder
etwas Greifbares noch etwas Erhebendes daraus gewonnen hatte. Greif¬
bares hatte freilich auch das Studium Hegels nicht hinterlassen, aber wer
einmal die Weltidee in lichter Gedankcnferne wie Abendgold sich zur Welt
hatte entfalten sehen, dem blieb wenigstens der Gewinn eines unendlich er¬
weiterten Gesichtskreises; und unter allen Umständen hatte er mit einem der
fruchtbarsten Geister des Jahrhunderts Umgang gepflogen. Von jenen blieb da¬
gegen nur der Eindruck philosophischer Stümper. Ein Glück für den jungen
Leser, daß er in seinem Hunger nach naturwissenschaftlicher Lektüre mit Müllers
und Ales "Natur" und mit Noßmäßlers "Aus der Heimat" in Berührung
^in, populären Zeitschriften, die zwar ebenfalls materialistische Ideen ver¬
traten, aber doch viel mehr bestrebt waren, suchende Geister in die Schön¬
heit und Größe der Natur einzuweihen. Besonders Karl Müller und Otto
Ule waren begeisternde Freunde und Kenner der Natur. Ihnen verdanken
dicke die Einführung in die Naturbeobachtung, die bald alles Fragen um
Stoff und Kraft zum Verstummen brachte, den Reichtum und die Tiefe der
Schöpfung uns unmittelbar fühlbar machte. Dann kam Darwin, dessen erstes
Und größtes Werk "Die Entstehung der Arten" 1860 in Deutschland bekannt
wurde, wo es von den echten Naturforschern mit Dank und Aufmerksamkeit
aufgenommen wurde; sein Übersetzer G. H. Bronn in Heidelberg hatte selbst zu
den bedeutendsten Vorläufern der Entwicklungslehre gehört. Natürlich strudelte
aber neben dem mächtigen Strom wissenschaftlicher Anregung, der von ihm aus¬
ging, auch wieder ein trüber Gegen- und Nebenstrom sogenannter Popnlari-


Grenzboten N 1902 72


Weltentwicklung und Weltschöpfung
Mit einem Anhang über Lyells und Darwins Gottesideen

er sechzigjährige erinnert sich an die Materialisten, die in den
fünfziger Jahren in Deutschland rumorten, wo sie von dem Über¬
druß an philosophischen Träumen Gewinn zogen. Er sieht vor
sich die zerlesenen Hefte und Bogen von Ludwig Büchner und
Karl Vogt, die er als Scholar unter der Tischkante studierte:
.Kraft und Stoff," „Köhlerglaube und Wissenschaft"; aber mit Ekel denkt er
heute an die Seichtigkeit ihres Inhalts zurück, die schon von dem ungeschulten
Geiste empfunden oder vielmehr nur geahnt wurde, wenn er am Schluß weder
etwas Greifbares noch etwas Erhebendes daraus gewonnen hatte. Greif¬
bares hatte freilich auch das Studium Hegels nicht hinterlassen, aber wer
einmal die Weltidee in lichter Gedankcnferne wie Abendgold sich zur Welt
hatte entfalten sehen, dem blieb wenigstens der Gewinn eines unendlich er¬
weiterten Gesichtskreises; und unter allen Umständen hatte er mit einem der
fruchtbarsten Geister des Jahrhunderts Umgang gepflogen. Von jenen blieb da¬
gegen nur der Eindruck philosophischer Stümper. Ein Glück für den jungen
Leser, daß er in seinem Hunger nach naturwissenschaftlicher Lektüre mit Müllers
und Ales „Natur" und mit Noßmäßlers „Aus der Heimat" in Berührung
^in, populären Zeitschriften, die zwar ebenfalls materialistische Ideen ver¬
traten, aber doch viel mehr bestrebt waren, suchende Geister in die Schön¬
heit und Größe der Natur einzuweihen. Besonders Karl Müller und Otto
Ule waren begeisternde Freunde und Kenner der Natur. Ihnen verdanken
dicke die Einführung in die Naturbeobachtung, die bald alles Fragen um
Stoff und Kraft zum Verstummen brachte, den Reichtum und die Tiefe der
Schöpfung uns unmittelbar fühlbar machte. Dann kam Darwin, dessen erstes
Und größtes Werk „Die Entstehung der Arten" 1860 in Deutschland bekannt
wurde, wo es von den echten Naturforschern mit Dank und Aufmerksamkeit
aufgenommen wurde; sein Übersetzer G. H. Bronn in Heidelberg hatte selbst zu
den bedeutendsten Vorläufern der Entwicklungslehre gehört. Natürlich strudelte
aber neben dem mächtigen Strom wissenschaftlicher Anregung, der von ihm aus¬
ging, auch wieder ein trüber Gegen- und Nebenstrom sogenannter Popnlari-


Grenzboten N 1902 72
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[0577] [Abbildung] Weltentwicklung und Weltschöpfung Mit einem Anhang über Lyells und Darwins Gottesideen er sechzigjährige erinnert sich an die Materialisten, die in den fünfziger Jahren in Deutschland rumorten, wo sie von dem Über¬ druß an philosophischen Träumen Gewinn zogen. Er sieht vor sich die zerlesenen Hefte und Bogen von Ludwig Büchner und Karl Vogt, die er als Scholar unter der Tischkante studierte: .Kraft und Stoff," „Köhlerglaube und Wissenschaft"; aber mit Ekel denkt er heute an die Seichtigkeit ihres Inhalts zurück, die schon von dem ungeschulten Geiste empfunden oder vielmehr nur geahnt wurde, wenn er am Schluß weder etwas Greifbares noch etwas Erhebendes daraus gewonnen hatte. Greif¬ bares hatte freilich auch das Studium Hegels nicht hinterlassen, aber wer einmal die Weltidee in lichter Gedankcnferne wie Abendgold sich zur Welt hatte entfalten sehen, dem blieb wenigstens der Gewinn eines unendlich er¬ weiterten Gesichtskreises; und unter allen Umständen hatte er mit einem der fruchtbarsten Geister des Jahrhunderts Umgang gepflogen. Von jenen blieb da¬ gegen nur der Eindruck philosophischer Stümper. Ein Glück für den jungen Leser, daß er in seinem Hunger nach naturwissenschaftlicher Lektüre mit Müllers und Ales „Natur" und mit Noßmäßlers „Aus der Heimat" in Berührung ^in, populären Zeitschriften, die zwar ebenfalls materialistische Ideen ver¬ traten, aber doch viel mehr bestrebt waren, suchende Geister in die Schön¬ heit und Größe der Natur einzuweihen. Besonders Karl Müller und Otto Ule waren begeisternde Freunde und Kenner der Natur. Ihnen verdanken dicke die Einführung in die Naturbeobachtung, die bald alles Fragen um Stoff und Kraft zum Verstummen brachte, den Reichtum und die Tiefe der Schöpfung uns unmittelbar fühlbar machte. Dann kam Darwin, dessen erstes Und größtes Werk „Die Entstehung der Arten" 1860 in Deutschland bekannt wurde, wo es von den echten Naturforschern mit Dank und Aufmerksamkeit aufgenommen wurde; sein Übersetzer G. H. Bronn in Heidelberg hatte selbst zu den bedeutendsten Vorläufern der Entwicklungslehre gehört. Natürlich strudelte aber neben dem mächtigen Strom wissenschaftlicher Anregung, der von ihm aus¬ ging, auch wieder ein trüber Gegen- und Nebenstrom sogenannter Popnlari- Grenzboten N 1902 72

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/577>, abgerufen am 29.04.2024.